An der diesjährigen Jahrestagung für Phytotherapie erläuterten die Speaker, wie sie pflanzliche Arzneimittel bei Alzheimer, chronischen Schmerzen, Magen-Darm-Erkrankungen bei Kindern und bei weiteren häufigen Erkrankungen und Beschwerden in der Grundversorgung einsetzen und wie sie deren Wirkmechanismen erforschen.
von Karin Meier
Phytotherapie in der Grundversorgung
Am 28. November 2024 lud die Schweizerische Medizinische Gesellschaft für Phytotherapie (SMGP) im Kongresszentrum Trafo in Baden zu ihrer 38. Jahrestagung ein. Diese stand unter dem Titel «Phytotherapie in der Grundversorgung» und liess von Beginn weg keine Zweifel daran, dass sie dort auch hingehört.
Stressreduktion mit Arzneipflanzen
Der erste Themenblock war dem Einsatz der Phytotherapie bei Störungen des zentralen Nervensystems gewidmet. Die Verhaltenstierärztin Dr. med. vet. Maya Bräm zeigte anhand eines Beispiels aus ihrer Tierarztpraxis auf, wie Pflanzen dabei helfen können, Stress im ganzen «System» zu vermindern, sowohl bei Tieren als auch deren Haltern: Die junge Deutsche Schäferhündin Nicky hatte so stark auf Reize reagiert, dass ein normaler Alltag mit ihr nicht mehr möglich war. Maya Bräm behandelte die Hündin mit neun pflanzlichen Arzneimitteln, die Erregung vermindern und Entspannung fördern. Die Phytotherapie und die Arbeit der Hundehalter führten zu einer deutlichen Reduktion der Stressbelastung und brachten Ruhe ins «Familiensystem».
Verlangsamung des Abbaus bei Alzheimer
Der zweite Referent, der Altersmediziner Prof. Dr. med. Reto W. Kressig von der Universität Basel, stellte den Stand der wissenschaftlichen Forschung zur Anwendung der Blätter von Ginkgo biloba bei Menschen mit Alzheimer vor. «Die langfristige Einnahme von Ginkgo-biloba-Extrakten in einer Dosis von 240 mg/Tag zeigt bei allen Krankheitsstadien von Alzheimer eine positive Wirkung», hielt er fest. Dies gelte auch für die Phase des «subjective cognitive decline», in der Menschen noch keine messbaren Einschränkungen der Hirnleistungen haben, solche aber bereits spüren.
Die langfristige Einnahme von Ginkgo-biloba-Extrakten zeigt bei allen Krankheitsstadien von Alzheimer eine positive Wirkung. Prof. Dr. med. Reto W. Kressig
Reto Kressig betonte, dass die Einnahme von Ginkgo biloba das Blutungsrisiko erwiesenermassen – anders als in einigen Case Reports dokumentiert – nicht erhöhe. Zahlreiche Fragen aus dem Plenum zur Dosierung und zum Einsatz bei anderen Erkrankungen zeugten vom grossen Interesse an der Anwendung dieser Arzneipflanze.
Was ist Phytotherapie?
Phytotherapie (Pflanzenheilkunde) nutzt pflanzliche Arzneimittel zur Therapie von Krankheiten und Beschwerden. Dies tut sie schon sehr lange: Phytotherapie ist die älteste Heilmethode. Sie gilt als Mutter der heutigen Schulmedizin, da viele der chemisch-synthetischen Arzneimittel Wirkstoffe verwenden, die aus Pflanzen stammen oder pflanzlichen Stoffen ähneln. Phytotherapie ist eine der fünf komplementärmedizinischen Behandlungsmethoden, die im Leistungskatalog der obligatorischen Krankenpflegeversicherung OKP aufgenommen und damit über die Grundversicherung abgedeckt sind.
Einsatz von Heilpflanzen bei Viren- und Stresserkrankungen
Prof. Dr. rer. nat. Andreas Hensel von der Universität Münster gewährte einen Einblick in seine Erforschung der Wirkungsweise pflanzlicher Arzneimittel im Rahmen der Behandlung bakterieller Erkrankungen. So konnte er nachweisen, dass viele der in der traditionellen Medizin genutzten pflanzlichen Drogen sehr spezifische Angriffspunkte haben, und in einigen Fällen konnten die hierfür verantwortlichen Pflanzeninhaltsstoffe charakterisiert werden. Am Beispiel von Blasen-Nierentees zeigte sich, dass kombinierte Extrakte aus Birkenblättern und Goldrutenkraut in der Therapie von Harnwegsinfektionen wirksamer sind als die jeweiligen Einzelextrakte.
Dr. med. Marianne Ruoff, die eine Praxis für Phytotherapie und Traditionelle Chinesische Medizin TCM führt, nahm in ihrem Referat die Teilnehmenden mit in die nördlichen Regionen Sibiriens und Asiens. Dort wachsen der Asiatische Ginseng, die Borstige Taigawurzel und der Rosenwurz. Sie zählen zu den sogenannten Adaptogenen, weil sie die Stressresistenz erhöhen, und können für eine Vielzahl von Beschwerden eingesetzt werden, darunter Fatigue und Stress.
Richtig eingesetzt und dosiert sind pflanzliche Adaptogene nebenwirkungsarm und bilden deshalb eine gute Alternative zu schulmedizinischen Pharmazeutika mit ähnlicher Wirkung. Dr. med. Marianne Ruoff
Marianne Ruoff erläuterte die phytotherapeutische Anwendung der drei Pflanzen im Detail und ging auf Unterschiede zu ihrem Einsatz in der TCM ein. Marianne Ruoff sieht grosses Potenzial in diesen Arzneipflanzen: «Richtig eingesetzt und dosiert sind pflanzliche Adaptogene nebenwirkungsarm. Sie bilden deshalb eine gute Alternative zu schulmedizinischen Pharmazeutika mit ähnlicher Wirkung, denn diese besitzen ein hohes Suchtpotenzial.»
Natürliche Hilfe für Magen, Darm und Blase
Die Veterinärmediziner unter den Teilnehmenden folgten am Nachmittag einem Parallelprogramm. Die übrigen Teilnehmenden erfuhren derweil von Dr. sc. nat. Beatrix Falch, Vizepräsidentin SMGP und Lehrbeauftragte an der ETH Zürich, dass in der Pädiatrie wegen mangelnder klinischer Studien Arzneimittel oft nicht für jüngere Kinder zugelassen sind und deshalb off-label verschrieben werden müssen: Dies bedinge entsprechende praktische Erfahrung sowie gute Kenntnisse der Inhaltsstoffe und Wirkungsweise von Arzneipflanzen.
Was dies konkret heisst, erläuterte Beatrix Falch am Beispiel von Magen-Darm-Erkrankungen. Dabei hielt sie fest: «Aufgrund des breiten Wirkspektrums von Arzneipflanzen reicht für die Behandlung der häufigsten gastrointestinalen Beschwerden in der Pädiatrie ein Grundsortiment aus circa sieben Arzneidrogen aus.»
Pflanzliche Vielstoffgemische sind bei leichten Harnwegsinfektionen gleich wirkungsvoll wie Antibiotika und sollten deshalb anstelle von diesen eingesetzt werden. Dr. med. Gesa Otti-Rosebrock
Die Gynäkologin Dr. med. Gesa Otti-Rosebrock, die auch Vorstandsmitglied der SMGP ist, nutzt in ihrer Praxis Phytotherapie zur Behandlung von Frauenleiden wie schweren Monatsblutungen und Hitzewallungen, aber auch von Harnwegsinfektionen.
Sie plädierte mit Nachdruck für eine gute Anamnese (Worterklärung bei Wikipedia) und Triagierung (Erklärung) zur Reduktion des Antibiotika-Einsatzes und forderte mehr Mut von ihren Berufskolleginnen und -kollegen: «Pflanzliche Vielstoffgemische sind bei leichten Harnwegsinfektionen gleich wirkungsvoll wie Antibiotika und sollten deshalb anstelle von diesen eingesetzt werden.»
Linderung bei chronischen Schmerzen
Den Abschluss der Vorträge machten zwei Referate zur phytotherapeutischen Behandlung von chronischen Schmerzen und zum Einsatz von medizinischem Cannabis.
«Für die erfolgreiche Behandlung von chronischen Schmerzen mit pflanzlichen Arzneimitteln muss man zuerst «Detektivarbeit» zu den genauen Ursachen und Zusammenhängen betreiben», sagte Dr. med. Florian Reisig vom Berner Inselspital. «Oft ist die Wahrnehmung von Schmerz hochgefahren, vergleichbar mit einer fehlerhaft eingestellten Alarmanlage.
Parallel dazu sind auch andere Sinneswahrnehmungen verstärkt, und das Stress- und Immunsystem wird ebenfalls aktiviert. Neben Schmerzen treten dann weitere Symptome auf. Bei guter Verträglichkeit lassen sich viele dieser Beschwerden mit pflanzlichen Arzneimitteln behandeln.» Das Ziel sei es, die Patienten zu Experten zu machen und aktiv in die Behandlung einzubinden. Prof. Dr. med. Thomas Herdegen von der Universität Kiel erläuterte im Abschlussreferat, weshalb er chronische Schmerzen, Demenz sowie Palliativsituationen als wichtige Einsatzgebiete für medizinisches Cannabis sieht.
Die Schweizerische Medizinische Gesellschaft für Phytotherapie SMGP
Die Schweizerische Medizinische Gesellschaft für Phytotherapie SMGP setzt sich für die breite Anerkennung der Phytotherapie als wichtigen Bestandteil der modernen Medizin ein. Sie arbeitet darauf hin, dass Phytotherapie ins Medizinstudium aufgenommen wird und im Pharmaziestudium mehr Gewicht erhält.
Ärzten, Apothekerinnen, Tierärzten sowie an Phytotherapie interessierten Wissenschaftlerinnen bietet sie Weiterbildungsmöglichkeiten in Phytotherapie an. Zu diesen gehört ein modular aufgebautes, 11-teiliges Fähigkeitsprogramm. Auf ihrer Website www.smgp-sspm.ch führt sie die Absolventinnen und Absolventen des Programms auf. Weiter fördert die SMGP die Arzneipflanzenforschung und vernetzt die relevanten Akteure in der Schweiz untereinander.
Phytotherapie – ein wichtiger Teil der modernen Medizin
Mit einer Mischung aus hochkarätigen Fachvorträgen, offenem Austausch und vielfältigen Firmenausstellungen bot die Jahrestagung der SMGP ihren Teilnehmenden eine willkommene Plattform für Wissenstransfer und Networking. Während das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic mit einer Delegation vertreten war, haben Politiker sowie Vertreter des Bundesamts für Gesundheit gefehlt.
Die Vortragenden legten in ihren Referaten dar, dass Phytotherapie der Schulmedizin bei der Behandlung zahlreicher weitverbreiteter Erkrankungen ebenbürtig ist oder parallel zu ihr eingesetzt werden soll. Die Jahrestagung zeigte damit eindrücklich, dass Phytotherapie nicht aus der modernen Medizin wegzudenken ist.
Was sind Ihre Erfahrungen mit der Pflanzenheilkunde?
Wussten Sie, dass Phytotherapie auch von Ärztinnen und Ärzten mit entsprechender Zusatzausbildung praktiziert wird? Teilen Sie Ihre Erfahrungen mit der Pflanzenheilkunde mit den anderen Millefolia-Leserinnen und -Lesern!
Bilder: Yan Krukov – Pexels.com / John Tuesday – unsplash.com / Nataliya Vaitkevich – Pexels.com / zVg – SMGP Franz Huber / Bungova – freepik.com / 2 x Yoksel Zok – unsplash.com /
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