Startseite Interviews Ganzheitliche Therapien sind vielen ein Bedürfnis, weil sie als Mensch wahrgenommen werden wollen

Ganzheitliche Therapien sind vielen ein Bedürfnis, weil sie als Mensch wahrgenommen werden wollen

von Olaf Müller
Ein bärtiger jugendlicher Vater trägt lachend seine Tochter auf den Schultern

Die SNE Stiftung für Naturheilkunde und Erfahrungsmedizin feiert ihr 30-Jahr-Jubiläum. 1995 hat die EGK-Gesundheitskasse die Stiftung ins Leben gerufen, um Naturheilkunde und Erfahrungsmedizin zu fördern. Vom SNE-Präsidenten und Gesundheitsökonomen Stefan Kaufmann wollen wir wissen, wie sich die Naturheilkunde entwickelt hat und warum Erfahrungswissen wichtig für die Wissenschaft ist.

Interview: Lukas Fuhrer

Stefan Kaufmann, 30 Jahre SNE – sind Sie in Festlaune?

Stefan Kaufmann: Es ist ein erfreuliches Ereignis, sicher. 30 Jahre sind eine stattliche Zahl, und wir können mit Genugtuung darauf zurückschauen, was wir mit unserer kleinen Stiftung alles erreicht haben.

Die SNE wurde 1995 gegründet, welche Bedeutung hat die Naturheilkunde im Schweizer Gesundheitswesen heute im Vergleich zu damals?

Junger Mann mit Rucksack hält einen Strauss Wildblumen mit beiden Händen vor sein Gesicht

Die EGK-Gesundheitskasse hat als Pionierin früh komplementärmedizinische Leistungen angeboten.

Was ich über diesen Zeitraum beobachten konnte, ist, dass die integrative Medizin in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. In den 1990er-Jahren hatte die Komplementärmedizin den Ruf, eher im alternativen Milieu beheimatet zu sein, aber heute kann man das überhaupt nicht mehr so verorten. Diese Entwicklung konnte die SNE begleiten – wie sehr wir sie beeinflusst haben, da möchte ich bescheiden sein, aber gerade in den Anfangsjahren war es sicher ein wichtiger Beitrag der EGK-Gesundheitskasse, dass sie auch komplementärmedizinische Leistungen angeboten hat.

Darin war sie Pionierin, und bis zum heutigen Tag pflegen EGK und SNE eine Symbiose, von der beide profitieren. Mit der Stiftung hat sich die Kasse eine Brücke in die komplementär- und integrativ-medizinische Welt gebaut, über die sie sich selbst mit dieser Welt auseinandersetzt.

Im Dienst der Naturheilkunde und Erfahrungsmedizin

Portrait eines mittelalten, freundlich blickenden Mannes mit weissem Hemd und blauem JackettStefan Kaufmann ist seit 2014 Präsident der Schweizerischen Stiftung für Naturheilkunde und Erfahrungsmedizin SNE, die 1995 von der EGK-Gesundheitskasse gegründet wurde. Beruflich ist der Gesundheitsökonom und Politikwissenschaftler als Generalsekretär der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH tätig.

Naturheilkunde umfasst eine Vielzahl von Methoden und Heilmitteln. Was ist Ihre Definition?

Unser Verständnis hat sich laufend entwickelt, auch durch unsere SNE-Akademie, wo wir Weiterbildungen für Therapeutinnen und Therapeuten anbieten. Wir verstehen den Menschen als bio-psycho-soziales Wesen, und alles, was ihn in seiner Resilienz und im Bestreben, seine Gesundheit zu stärken, unterstützt, können wir unter Naturheilkunde subsumieren.

Ein blaues Velo steht im Abendlicht auf einem Weg inmitten eines grün bewachsenen Feldes.

Die SNE Stiftung für Naturheilkunde und Erfahrungsmedizin will im Gesundheitswesen den ganzheitlichen Blick fördern.

Ob das im Einzelnen dann als Komplementär-, Alternativ- oder Integrativmedizin bezeichnet wird, ist für uns nicht so wichtig. Aber die EGK wollte mit der Gründung der SNE natürlich den Versicherten Orientierung bei den Therapien bieten und hat entsprechende Versicherungsdeckungen in der Zusatzversicherung angeboten. Wir haben auch heute noch ein Therapieglossar auf unserer Website, wo die Therapien beschrieben sind, und einen Therapeutenfinder.

Die Naturheilkunde wird immer verbreiteter integrativ angewendet, also in Kombination mit Schulmedizin, auch in Spitälern. Wie erleben Sie diese Entwicklung?

Ich glaube, das zeugt davon, dass die Naturheilkunde in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Man sieht das beispielsweise in der Onkologie, in der Schmerztherapie, aber auch bei anderen Krankheitsbildern im Spital, wo man auf die Zusammenarbeit von Ärztinnen mit Therapeuten setzt. Man hat erkannt, dass sich die Methoden im Zusammenspiel ergänzen, bei bestimmten Krankheitsbildern, und ist viel offener geworden. Meine Wahrnehmung ist: Je chronischer die Beschwerden, desto mehr werden integrative Ansätze verfolgt.

Wenn die integrative Medizin so verbreitet ist und nachweislich vielen Patientinnen und Patienten hilft: Wie erklären Sie sich, dass es immer wieder politische Vorstösse gibt, die die Komplementärmedizin schwächen wollen?

Ein Vater folgt seinen zwei Kindern auf einem Weg aus dem Wald auf eine Lichtung

Heute herrscht in der Gesundheitspolitik oft ein Kosten-Tunnelblick vor.

Wir haben heute einen extremen Kosten-Tunnelblick in der Gesundheitspolitik. Somit begegnet man vielen Massnahmen nach dem Motto «wehret den Anfängen» und ist Neuem gegenüber zurückhaltend. Zudem gibt es immer wieder Diskussionen um die Evidenz einzelner Methoden.

In der Politik kehren Themen halt zyklisch wieder. Zudem hat es 2009 einen klaren Volksentscheid für die Komplementärmedizin in der Grundversicherung gegeben, und ich denke, Politikerinnen und Politiker müssten sich gut überlegen, ob sie diesen Ausdruck des Volkswillens 16 Jahre später wieder infrage stellen wollen.

Evidenz wird oft mit klinischen Studien gleichgesetzt, aber nach dem Modell der evidenzbasierten Medizin sind daneben die Präferenzen der Patienten und das Erfahrungswissen der Behandelnden ebenso wichtig. Die SNE fördert die Erfahrungsmedizin, warum ist das wichtig und nötig?

Die evidenzbasierte Medizin verbindet die wissenschaftliche Forschung mit der gelebten Realität. Man kann eben nicht immer doppelblinde Studien durchführen, und manchmal funktioniert etwas in der klinischen Studie, aber in der realen Versorgung nicht. Nehmen wir als Beispiel ein Wundpflaster: Das funktioniert unter klinischen Bedingungen gut, im Alltag kommt es nun aber darauf an, ob ein Laborant das Pflaster trägt, der unter relativ sterilen Bedingungen arbeitet, oder ein Bauer im Stall.

In der Erfahrungsmedizin kann man durch langjährige Beobachtung feststellen, ob eine Methode einen positiven Effekt hat.» Stefan Kaufmann

In der Erfahrungsmedizin kann man durch langjährige Beobachtung feststellen, ob eine Methode einen positiven Effekt hat. Und mit sozialwissenschaftlichen Forschungsdesigns kann man auch dort Studien durchführen. Das wissenschaftliche Instrumentarium, um Wirksamkeit zu erforschen, ist sehr breit und nicht auf klinische Studien beschränkt. Seit dem Volks-Ja 2009 ist die universitäre Forschung im Bereich Komplementärmedizin ein Gesetzesauftrag, aber wie überall ist es ein Kampf um finanzielle Mittel.

Ärztinnen und Therapeuten sammeln ihr Erfahrungswissen in Datenbanken, um es für andere nutzbar zu machen. Im Jubiläumsjahr unterstützt die SNE das Portal der Stiftung Vademecum der Integrativen Medizin, das diesem Zweck dient (siehe auch Box). Was erhoffen Sie sich vom Vademecum?

Wir wollen die Entwicklung unterstützen, dass die Evidenz in der Komplementärmedizin weiter gestärkt wird. An vielen Universitäten wird geforscht und auch an der Kommunikation gearbeitet, um die Ergebnisse sichtbar zu machen. Beim Vademecum ist der Ansatz, dass Therapierende über ihre Erfahrungen berichten, in anonymisierten Fällen. Es ist ein sauber aufgesetztes Projekt, und wir sind gespannt, wie es bei den Therapeutinnen und Therapeuten ankommt.

Naturheilkunde setzt auf die Stärkung der Selbstheilungskräfte, sie wird oft auch präventiv angewendet. Trägt sie zur Entlastung des Gesundheitswesens bei, indem sie gröbere gesundheitliche Störungen vermeiden hilft?

Laborantin mit Atemmaske und Sichtschutz blickt in ein vor ihr stehendes Mikroskop.Ja, davon gehen wir aus, denn sie fördert auch die Gesundheitskompetenz. Viele Menschen wollen von ihrer Denkweise her nachhaltig gesund sein und Probleme gesamtheitlich angehen. Und da ist die Naturheilkunde ein interessantes Angebot, das auch nachgefragt wird. Im Zeitalter einer extrem spezialisierten, stellenweise sehr technisch getriebenen Medizin, in der die Ärzte in der Grundversorgung unter enormem Kostendruck und Zeitdruck stehen, sind ganzheitliche Therapien vielen ein Bedürfnis – weil sie als Mensch wahrgenommen werden wollen. Damit wir uns richtig verstehen: Die Grundversorger würden sich gerne mehr Zeit nehmen, aber es gibt zu wenige, die Praxen sind übervoll – sie stehen unter einem Riesendruck.

Die SNE setzt sich nicht allein für Naturheilkunde und Erfahrungsmedizin ein, der Dachverband Komplementärmedizin Dakomed, der Herausgeber von millefolia.ch, ist etwa ein Partner. Sind Allianzen wichtig?

Die SNE unterstützt den Dakomed als Gönnerin. Da die SNE keine politische Organisation ist, ist es für uns sinnvoll, den Dakomed, der nicht grosse finanzielle Ressourcen oder umsatzstarke Industrien im Rücken hat, in seiner politischen Arbeit zu unterstützen.

Ein Höhepunkt im Jubiläumsjahr wird sicherlich das SNE-Symposium am 26. September 2025 sein, können Sie schon etwas verraten?

Das Symposium ist jedes Jahr ein Höhepunkt, mit vielen Therapeutinnen und Interessierten, die immer wieder kommen. Wir haben auch zahlreiche Referentinnen und Referenten aus dem deutschsprachigen Raum. Die sind oft überrascht von der Veranstaltung, bei der man über die Gartenzäune schaut und integriert – das haben viele noch nie erlebt. Das diesjährige Programm erarbeiten wir derzeit gerade, wie immer wird sich ein roter Faden durch die Beiträge ziehen.

Ein Ständermikrofon vor einem mit Publikum gut befüllten Konferenzsaal

Das SNE-Symposium mit vielen Therapeutinnen und Interessierten ist jedes Jahr ein Höhepunkt.

Eine Zukunft, in der es keine SNE mehr benötigen würde, wie sähe die aus?

In dieser Zukunft wären Naturheilkunde und Erfahrungsmedizin als Selbstverständlichkeit ins Gesundheitssystem integriert, und die Menschen würden gar nicht mehr unterscheiden. Auf diesen Idealzustand können wir hinarbeiten, und es ist das Ziel der SNE, hier ihren Beitrag zu leisten.

Jubiläumsförderprojekt der SNE: Das Vademecum

Auf der Plattform «Vademecum der Integrativen Medizin», die 2024 online gegangen ist, können Ärztinnen und Naturheilpraktiker therapeutische Erfahrungsberichte erfassen. Dieser Datenschatz steht allen medizinischen Fachpersonen, die einen Zugang zur Plattform beantragen, kostenlos zur Recherche zur Verfügung. Der Fokus liegt auf Therapien mit komplementärmedizinischen Arzneimitteln, aber auch über die dazugehörigen nicht-medikamentösen Begleittherapien soll berichtet werden. Hinter dem Projekt steht die Stiftung Vademecum der Integrativen Medizin.

Zu ihrem 30-Jahr-Jubiläum fördert die SNE das Vademecum mit 20 Franken pro publiziertem Erfahrungsbericht. Die SNE erhofft sich, möglichst viele Therapierende zum Teilen ihres Erfahrungswissens zu motivieren:

Bildschirmfoto der Vademecum-Website, die der SNE unterstützt.


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