Naturheilkunde als Alleinstellungsmerkmal
Seit dreissig Jahren sorgt Peter Guerra mit Passion für die Arzneimittelsicherheit im Kanton Appenzell Ausserrhoden – einem Kanton, in dem vieles möglich ist, was sonst in der Schweiz nur Ärztinnen und Ärzten vorbehalten ist, wie schröpfen oder Spritzen setzen.
Niemand würde bei diesem quirligen energiegeladenen Mann an einen Rentner denken. Dabei ist Peter Guerra doch vor einem Jahr 65 geworden und damit rein theoretisch im Ruhestand. Rein theoretisch – denn: Der Chef der eilmittelkontrolle
im Kanton Appenzell Ausserrhoden und Präsident der kantonalen Prüfungskommission für Heilpraktiker und Heilpraktikerinnen ist noch immer zu 50 Prozent berufstätig. Befristet bis im September 2019, dann werde er 67 sein, und dann sei wohl schon der Moment erreicht zu gehen. Vor einem Jahr hat der gebürtige Schaffhauser zumindest schon einmal die Leitung der Fachstelle Gesundheitsfachpersonen an eine Kollegin abgegeben.
Wenn er sich das Ganze überlegt, muss er selber schmunzeln. «Als ich die Stelle 1988 antrat, dachte ich, okay, jetzt baust du hier erst einmal eine Heilmittelkontrolle auf, und dann kannst du es dir immer noch überlegen und vielleicht zurück in die Industrie gehen.» Denn nach dem Staatsexamen in Neuenburg war er in der pharmazeutischen Industrie tätig gewesen.
Prüfung sichert Qualität
Im Kanton Appenzell Ausserrhoden hat die Naturheilkunde eine lange Tradition – mit ganz eigenen Praktiken. Schon im Mittelalter mischten die Klosterfrauen ihre Heilsalben und Tinkturen. Legendär sind Molkenkuren und Heilbäder aus dem 19. Jahrhundert und später die Heilmittel von Kräuterpionieren wie Alfred Vogel, Babette Oertle-Alder und Karolina Schefer-Sigrist. Entscheidend war und ist die liberale Gesetzgebung des Kantons; die freie Heiltätigkeit wurde 1871 vom Volk an der Landsgemeinde beschlossen. Sie ist bis heute einzigartig in der Schweiz. Hier kann jede und jeder als Naturheilkundlerin oder Naturheilkundler praktizieren – wenn sie oder er die kantonale Prüfung bestanden hat. Und für die ist profundes Wissen gefragt, wie Guerra betont: Die meisten, die zur Prüfung anträten, seien alles andere als Neulinge, sondern blickten auf langjährige Berufserfahrungen etwa als Drogisten oder Ärztinnen zurück. Durchgeführt wird die Prüfung von einer Prüfungskommission, bestehend aus acht Gesundheitsfachpersonen, alle zusätzlich auch in der Heilkunde ausgebildet. Haben die Prüflinge die kantonale Approbation erreicht, sind sie frei in der Wahl ihrer Methode – von Homöopathie bis hin zu traditioneller chinesischer Medizin, von Entgiftungskuren bis hin zu Dunkelfeldtherapie.
Einzigartige Methoden und Arzneien
Speziell ist im Kanton Appenzell Ausserrhoden, dass invasive Methoden zugelassen sind – wie etwa das Schröpfen oder der Aderlass, beides sind klassische naturheilpraktische Verfahren. So dürfen die Heilpraktizierenden hier auch Spritzen unter die Haut setzen, wie es in der Neuraltherapie praktiziert wird. Sie brauchen dazu allerdings eine spezielle Bewilligung.
Nicht nur bei den Methoden, sondern auch punkto Arzneimitteln ist das Spektrum im Kanton gross. Zwar liegt die Zulassung von Arzneimitteln seit 2001 bei der eidgenössischen Prüfstelle Swissmedic. Doch sind die Kantone nach wie vor frei in der Zulassung von sogenannten Hausspezialitäten, also Präparaten, die von einer Apotheke oder Drogerie selber hergestellt werden. Im Weiteren kennt der Kanton noch die sogenannten AR-Registrierungen. Das sind nicht verschreibungspflichtige Präparate, die nur im Kanton Appenzell Ausserrhoden in Verkehr gebracht werden dürfen. Aufgrund bundesrechtlicher Bestimmungen bestehe hier noch eine Art Besitzstand, sagt Peter Guerra und fügt an: «Die Praktizierenden können bei uns von einer viel grösseren Vielfalt an Methoden und Arzneien profitieren als sonst wo in der Schweiz – das ist schon seit langem unser Alleinstellungsmerkmal.»
Quantensprünge und Grenzziehungen
Wenn er auf die letzten dreissig Jahre zurückblickt, so sieht er in der Schweiz allgemein eine äusserst positive Einstellung der integrativen Medizin gegenüber. Dies zeige sich auch im «Quantensprung» bei der Qualität der Ausbildungen und Schulen, der hierzulande getan worden sei, sowie bei den neu geschaffenen eidgenössischen Diplomen in Naturheilpraktik
und Komplementärtherapie.
Heute wollten die Leute eben eine sogenannt sanfte Medizin und würden eine solche mit Naturheilmitteln verbinden, sagt Guerra. «Dabei ist Naturmedizin natürlich nicht einfach sanft, sondern kann auch ziemlich ‹heavy› sein, zum Beispiel bei gewissen Entgiftungsverfahren oder im Hinblick auf die pflanzlichen Inhaltsstoffe von einigen Arzneien.»
Gerade in Appenzell Ausserrhoden zeige sich die Offenheit und Freiheit gegenüber der Komplementärmedizin gleichermassen in Politik und Öffentlichkeit. Diese Offenheit bedinge aber auch Grenzen setzen zu wissen, sagt der engagierte Heilmittelprüfer und bringt damit seine Tätigkeit auf den Punkt: «Zulassen und reglementieren, das eine geht nicht ohne das andere.»
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