Von Manuela Fey
Ein ärztliches Vertrauensverhältnis ist bei Impfentscheidungen die wichtigste Voraussetzung für zufriedene, kompetente Patientinnen und Patienten, sagt Prof. Dr. med. Philip Tarr.
Herr Professor Tarr, Sie führen in einer Forschungsgruppe aus Soziologie und Medizin ein nationales Forschungsprogramm zur Impfskepsis in der Schweiz durch. Darin befragen Sie impfskeptische Eltern und Komplementär- bzw. Alternativmedizinerinnen sowie impfbefürwortende Eltern und Schulmediziner vertieft zu ihrer Impfeinstellung und ihren Beweggründen. Was veranlasste Sie zu dieser Studie?
Philip Tarr: Die Kommunikationsbotschaften der Behörden und Fachleute lauteten bisher: Impfungen sind wirksam und sicher. Ich beobachtete seit Jahren eine sehr einseitige Diskussion zu „Impfskepsis“: Wer gemäss Impfplan impft, verhält sich richtig, und diejenigen, die das nicht machen, werden als Impfgegner bezeichnet. Aber die Motivationen und Einstellungen der impfskeptischen Personen wurden bisher kaum im Detail untersucht.
Welches sind die Ziele Ihrer Studie?
Wir möchten das Verständnis für Impfskepsis fördern, das Fachwissen der Ärzte und Ärztinnen zu Impfungen steigern und so die Qualität der Impfberatung und -kommunikation verbessern. Mit den herkömmlichen Impfbotschaften erreichen Behörden und Fachleute zwar den grösseren Teil der Bevölkerung, aber bei den circa dreissig Prozent impfskeptischen Personen braucht es eine andere Kommunikation.
Gute Medizin berücksichtigt stets sowohl schul- als auch komplementärmedizinische Aspekte.
Wir möchten ebenso darauf aufmerksam machen, dass gute Medizin immer integrativ ist. Sie berücksichtigt stets sowohl schul- als auch komplementärmedizinische Aspekte. Sie orientiert sich stets an den individuellen Bedürfnissen der Menschen.
Welches sind die bisherigen Erkenntnisse?
Die wohl zentrale Erkenntnis ist, dass eine produktive, respektvolle Zusammenarbeit zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin möglich ist.
Wir durften auch mit impfskeptischen Ärzten und Ärztinnen vertiefte Interviews führen und sie während Impfkonsultationen beobachten. Das war das A und O für weitere Studienergebnisse: Traditionell eingestellte Ärzte, Ärztinnen kommen nicht selten an ihre fachlichen und kommunikativen Grenzen, wenn Patienten viele Fragen und Sorgen zu Impfungen haben. Sie finden diese Menschen anstrengend und können sie nicht immer adäquat beraten. Diese Menschen wiederum fühlen sich vom Arzt nicht immer ernst genommen. Teils wechseln sie zu anderen Ärzten, insbesondere zu Komplementärmedizinern, die diese Personen nicht mühsam finden. Komplementärmediziner sehen die Beratung von impfskeptischen Personen oft als Teil ihres Kerngeschäfts.
Was hat es mit der Skepsis nun auf sich?
Skepsis erscheint uns erst mal als eine normale, gesunde Lebenseinstellung. Patienten und Patientinnen sollen mitdiskutieren und fragen dürfen; Ärzte und Ärztinnen sollen die Offenheit und das Know-how mitbringen, um diese Fragen zu beantworten. Komplementärmedizinerinnen und -mediziner leisten mit der Beratung von impfskeptischen Personen einen wichtigen Beitrag zur individuellen wie auch zur öffentlichen Gesundheit.
Komplementärmedizinerinnen und -mediziner leisten mit der Beratung von impfskeptischen Personen einen wichtigen Beitrag zur individuellen wie auch zur öffentlichen Gesundheit.
Wichtig scheint mir zudem: „Zu tiefe“ Impfraten sind oft nicht auf Impfskepsis zurückzuführen. Der Zugang zu Impfungen, insbesondere zur HPV-Impfung, ist in der Schweiz nicht immer einfach. Darum sollte die behördliche Kommunikation verbessert werden. In der Schweiz haben wir im internationalen Vergleich eine tiefe Gesundheitskompetenz, vor allem was Prävention und Impfungen betrifft.
Was ist die HPV-Impfung?
Humane Papillomaviren (HPV) werden sexuell übertragen und sind verantwortlich für die Entstehung verschiedener Krebserkrankungen im Genital- sowie Hals-Rachenbereich, insbesondere Gebärmutterhalskrebs. Eine Impfung kann vor der Infektion mit wichtigen Virentypen schützen, so das Bundesamt für Gesundheit.
Das Impfgespräch zwischen Arzt und Patient ist also zentral. Was macht ein gutes Impfgespräch aus?
Das Impfgespräch ist das A und O, denn das Thema Impfungen löst bei vielen Patienten Emotionen und Ängste aus. Für den Arzt, die Ärztin bedeutet das: sich Zeit nehmen, dem Patienten zuhören, dessen Fragen beantworten und Sorgen ernst nehmen.
Erübrigt sich ein Impfobligatorium, wenn Mediziner und Behörden gut kommunizieren?
Ja, glauben wir; wenn wir die Impfkommunikation und –beratung verbessern. Obligatorien führen zu Widerstand und haben das gefährliche Potenzial, das Vertrauen in Behörden und Impfungen zu senken. Ich rate von Impfobligatorien ab. Das Bundesamt für Gesundheit erkannte diese Problematik schon vor Jahren. Es verfolgt keine Impfobligatorien, auch nicht für Covid-19.
Was raten Sie den Schweizerinnen und Schweizern allgemein hinsichtlich einer möglichen Covid-19-Impfung?
Ich rate uns abzuwarten. Forschende und Firmen stellten innert weniger als einem Jahr mehrere offenbar sichere, hochwirksame Impfstoffe bereit. Jetzt braucht es einige Monate, um die längerfristige Sicherheit und Wirksamkeit zu klären. Wir werden die Ergebnisse in jenen Ländern, in denen Millionen Personen bis im Frühling 2021 geimpft werden, genau beobachten.
Wir wissen derzeit nicht, ob die Covid-19-Impfungen die Pandemie beseitigen werden und wir zum normalen Leben zurückgehen können.
Zudem muss die Kommunikation durch Behörden und Fachpersonen transparent und behutsam erfolgen. Wir wissen derzeit nicht, ob die Impfungen die Pandemie beseitigen werden und wir zum normalen Leben zurückgehen können.
Kurz erklärt
- Schweizerischer Impfplan: Gemäss Bundesamt für Gesundheit enthält der Schweizerische Impfplan die Informationen über die in der Schweiz empfohlenen Impfungen. Ziel ist ein optimaler Impfschutz jeder Einzelperson und der Bevölkerung insgesamt. Eine Impfung wird nur empfohlen, wenn ihr Nutzen das Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen um ein Vielfaches übertrifft.
- Impfobligatorium: Auszug aus der Antwort des Bundesrates vom 21. September 2020 an das Parlament: „Impfungen sind grundsätzlich freiwillig. Es ist nicht möglich, Impfungen für die ganze Bevölkerung obligatorisch zu erklären. Das Epidemiengesetz sieht jedoch in Artikel 22 die Möglichkeit vor, dass die Kantone Impfungen für gefährdete Bevölkerungsgruppen, von besonders exponierten Personen und von Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch erklären können. Dies sofern eine erhebliche Gefahr besteht. Der Bund kann zwar gestützt auf Artikel 6 Epidemiengesetz ebenfalls Impfungen für diese Gruppen bzw. Personen für obligatorisch erklären, aber die Kompetenz des Bundes ist lediglich subsidiär.“
Zur vollständigen Antwort des Bundesrates
Prof. Dr. med. Philip Tarr ist Co-Chefarzt der Medizinischen Universitätsklinik sowie Leiter Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital Baselland in Bruderholz BL. Er absolvierte das Staatsexamen an der Universität Zürich, die Facharztausbildung in innerer Medizin in Boston, USA und in Infektiologie in Washington DC USA. Er habilitierte auf dem Gebiet der Infektiologie an der Universität Basel. Philip Tarr leitet das nationale Forschungsprogramm NFP74 zur Impfskepsis in der Schweiz, das der Schweizerische Nationalfonds für fünf Jahre unterstützt.
Weiterführende Links zu Fachartikeln:
- Nationales Forschungsprogramm Impfskepsis
- Kommentar zu obligatorischen Impfungen und Impfkommunikation
- Social Science and Medicine Artikel zu Impfberatung durch KomplementärmedizinerInnen
- Empfehlungen von KomplementärmedizinerInnen zu Impfkommunikation (siehe Table 6)
- Social Science and Medicine Artikel zu Paradoxen in der Impfkommunikation
Das Interview wurde schriftlich geführt.
Bilder: zVg Prof. Dr. med. Philip Tarr, pixabay.com
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