Von Manuela Fey
Hochsensible sind offener für Reize als Normalsensible. Sie nehmen besonders intensiv, differenziert und vernetzt wahr. Sind sie im Umgang damit geübt und kennen sie ihre Ressourcen, können sehr feinsinnige Menschen ihre Gabe leben.
„Hochsensibilität ist eine Charaktereigenschaft“, betont Dr. Suzann Kirschner-Brouns. Sehr feinsinnige Menschen seien empfänglicher für Reize, was zu Dauerstress führen könne. „Eine Reizüberflutung ist daher zu vermeiden und ein achtsamer Umgang im Alltag zu pflegen“, rät die Ärztin und Referentin am Forum der Stiftung ASCA.
Hochsensibilität ist eine Charaktereigenschaft.
Neuesten Forschungen zufolge sind 31 Prozent der Menschen hochsensibel. Davon haben 47 Prozent diese Charaktereigenschaft vererbt bekommen, 53 Prozent haben sie erworben. Auch kommt Hochsensibilität in allen Kulturen und je hälftig bei Frauen und Männern vor. Dabei reicht es, wenn einzelne der Sinneswahrnehmungen wie sehen, riechen, schmecken, hören, fühlen und Empathie stark ausgeprägt sind.
Hohe Begabung, hohe Reizoffenheit
Durch ihre Forschungen zur Hochsensibilität in den 1990er-Jahren gilt die amerikanische Psychologin Dr. Elaine Aron als Pionierin. Die grösste Studie führte 2014 die deutsche Diplom-Psychologin Dr. Sandra Konrad durch. Nach ihrer Definition sprechen Hochsensible stark auf psychische und sensorische Reize an und sind damit leichter von inneren und äusseren Reizen überflutet sowie verarbeiten sie Informationen stärker und sind damit schneller gestresst. Zudem sind sie vorsichtig bei unbekannten Situationen und vermeiden diese. Auch benötigen sie mehr Rückzugsphasen zur Verarbeitung der Reize.
Das intensivere Erleben und die gründlichere Reflexion führen oft zu einer grösseren Umsicht.
Ein sehr feinsinniger Mensch nimmt im Supermarkt nicht nur anwesende Personen und die vielen Produkte wahr, sondern auch die Musik aus den Lautsprechern, zahllose Farben, Lichter, Gerüche, Stimmungen usw. Dr. Sandra Konrad: „Das intensivere Erleben und die gründlichere Reflexion führen oft zu einer grösseren Umsicht.“ So erschliesst sich dem Hochsensiblen die Natur mit ihrer Fülle an Schönheit, die zur Kraftquelle werden kann. Laut Dr. Suzann Kirschner-Brouns äussert sich Hochsensibilität etwa auch durch ein reges Innenleben, einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, ein hohes Mass an Kreativität, Suche nach Sinnhaftigkeit und eine stärkere Reaktion auf Medikamente.
Verlust wie auch Gewinn von Vitalität
Lebt ein Mensch seine Hochsensibilität zu wenig, können sowohl seelische Leiden wie Depressionen, Einsamkeit oder Selbstzweifel auftreten als auch körperliche Beschwerden wie Allergien, Reizdarm oder Burn-out. Neben dem Nervensystem und dem Immunsystem ist auch das Hormonsystem eines sehr feinsinnigen Menschen stärker belastet. „Zuviel Stress kann zu einer Nebennierenschwäche führen“, erklärt die Ärztin und Referentin Dr. Susanne Esche-Belke. Die erschöpften Nebennieren produzieren zu wenig Hormone, was über längere Zeit unbehandelt lebensgefährlich sein kann.
Der sehr feinsinnige Mensch lebt nun seine Gabe achtsam im Alltag. Zugleich schützt er seine Sinne etwa vor Lärm, Gerüchen und visuellen Eindrücken, um eine Reizüberflutung zu vermeiden.
Ein feinfühliges Körpersystem ermöglicht, Krankheiten zu vermeiden oder sie sehr frühzeitig zu behandeln. Auf sanfte Methoden wie Bachblüten, Homöopathie oder Akupunktur sprechen Hochsensible generell gut an. Auch Meditation, yogische Atemübungen oder Autogenes Training empfehlen die Ärztinnen, um das Körpersystem zu beruhigen: „Sich spüren und atmen ist Stressentwarnung für den Organismus.“
Reizüberflutung vermeiden
„Die eigene Hochsensibilität anzunehmen, ist ein jahrelanger, lohnenswerter Prozess“, hält Dr. Suzann Kirschner-Brouns fest. Hilfe bietet das 4-Phasen-Integrationsmodell der Diplom-Pädagogin Cordula Roemer. Der Betroffene arbeitet sich durch die Phasen des Erkennens, der geistig-emotionalen wie praktischen Integration bis zur Heilung. „Der sehr feinsinnige Mensch lebt nun seine Gabe achtsam im Alltag“, so die Ärztin. „Er kennt seine Stärken, akzeptiert seine Grenzen, nennt seine Bedürfnisse, verfügt über Rückzugsorte. Er schützt seine Sinne etwa vor Lärm, Gerüchen und visuellen Eindrücken, um eine Reizüberflutung zu vermeiden. Er ist sich selbst sein bester Freund.“
Tests zur Hochsensibilität, laut Dr. Suzann Kirschner-Brouns:
- www.hsperson.com (Dr. Elaine Aron, englisch)
- www.susanmarlettahart.com (Weiterleitung zum Test von Dr. Aron auf Deutsch)
- www.zartbesaitet.net (Georg Parlow)
- www.vielfuehler.de (Guido Gebauer, Petra Tomschi)
Dr. med. Susanne Esche-Belke (links) ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, Notfallmedizin, Präventivmedizin, Akupunktur und MBSR (Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion). Sie arbeitet in eigener Praxis für integrative, funktionelle Medizin in Berlin.
Ursula Marthaler (Mitte) ist Vizepräsidentin der Stiftung ASCA, der Schweizerischen Stiftung für Komplementärmedizin.
Dr. med. Suzann Kirschner-Brouns (rechts) ist Ärztin, Medizinjournalistin, Chefredakteurin und Fachautorin zahlreicher Publikationen auf dem Gebiet der Medizin, Gesundheit und Psychologie.
Die beiden Ärztinnen sind Autorinnen des demnächst erscheinenden Fachbuches „Midlife Care; Wie wir die Lebensmitte meistern und die Kraft unserer Hormone nutzen“. Sie referierten am Forum der Stiftung ASCA in Zürich.
Bilder: pixabay.com, Manuela Fey
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