Von Manuela Fey
Die Diagnose Krebs trifft den Menschen in seiner Ganzheit. Darum ist es wichtig, Tumorerkrankte körperlich, seelisch und geistig zu unterstützen, sagt Dr. Marc Schlaeppi, Leiter des Zentrums für Integrative Medizin am Kantonsspital St. Gallen.
Herr Dr. Schlaeppi, das Zentrum für Integrative Medizin (ZIM) feiert dieses Jahr sein zehnjähriges Bestehen. Welche Bilanz ziehen Sie als Gründer und Leiter des Zentrums?
Marc Schlaeppi: An einem Vollversorgungsspital wie dem Kantonsspital St. Gallen (KSSG) ausgewählte, breite komplementärmedizinische Massnahmen anzubieten, war im Jahr 2012 aussergewöhnlich. Umso mehr freut es uns, hat das ZIM sich etabliert. Aus unserem Pilotprojekt auf der Palliativstation am KSSG-Standort Flawil ist das ZIM als Organisationseinheit innerhalb des Kantonsspitals St. Gallen entstanden. Wir haben stetig wachsen dürfen sowohl qualitativ als auch quantitativ.
Was verstehen Sie unter „Integrativer Medizin“?
Komplementär- und Schulmedizin kommen in einem Gesamtkonzept zusammen, sodass sie sich in ihren Stärken sinnvoll ergänzen. Dieser Mehrwert kommt dem Patienten, der Patientin zugute.
In der Integrativen Medizin geht es auch darum, aus einem passiven, verunsicherten Patienten einen aktiven, motivierten Patienten zu machen.
Durch den Komplementäransatz können wir mit verschiedenen Methoden Symptome lindern und die Selbstheilungskräfte anregen, um Körper und Seele ins Gleichgewicht zu bringen. Auch geht es darum, aus einem passiven, verunsicherten Patienten einen aktiven, motivierten Patienten zu machen.
Sie führen am ZIM die Sprechstunde für Integrative Onkologie. Wie läuft diese ab?
Die Menschen gelangen in allen Stadien einer Tumorerkrankung an uns. Sie befinden sich in Spitalpflege oder werden immer öfter vom Hausarzt zugewiesen. Zuerst gehe ich auf die drei Säulen ein, die es zu respektieren und individuell umzusetzen gilt. So wirken die komplementärmedizinischen Therapien und die chemischen Substanzen der schulmedizinischen Behandlungen besser.
- Körperliche Aktivität wie Spazieren oder Sport treiben
- Pflege der inneren Ruhe etwa mit Achtsamkeitsbasierter Stressreduktion MBSR. Regelmässig praktizierte Achtsamkeit wirkt sich positiv auf das Leben aus.
- Pflege eines Tagesrhythmus mit Prüfen der Schlafgewohnheiten und –qualität. Denn Rhythmus trägt Leben.
An einer interdisziplinären Konferenz besprechen wir wöchentlich die neuen Fälle. Dieser wichtige Austausch von Ärztinnen und Ärzten unterschiedlicher Fachbereiche wie auch von Therapeuten und Pflegefachfrauen ermöglicht, diverse Aspekte zu beleuchten und in einen Dialog über die komplementärmedizinischen Systeme zu treten. Zum Beispiel reduziert Akupunktur die Wallungen aufgrund einer Antihormontherapie von Patientinnen mit Brustkrebs.
Diese komplementärmedizinischen Therapien bietet das Zentrum für Integrative Medizin (ZIM) am Kantonsspital St. Gallen an
- Anthroposophische Medizin mit äusseren Anwendungen in der Pflege (Wickel und Kompressen, Rhythmische Einreibungen), Kunsttherapie, Heileurythmie (achtsame Bewegungstherapie) und Heilmittel
- Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) mit Akupunktur, Tuina (Massageform), Shonishin (Kinderakupunktur) und Toyohari (schmerzlose Akupunktur)
- Osteopathie (manuelle Behandlungsmethode)
- Mind Body Medicine (Stärkung eigener Ressourcen)
Das Team des ZIM besteht aus Fachärztinnen und -ärzten, die teils zusätzlich in Anthroposophischer Medizin bzw. in Akupunktur ausgebildet sind, Therapeutinnen und Therapeuten, Pflegefachfrauen sowie kaufmännischen Mitarbeitenden.
Laufende Studien
Aktuell führt das Zentrum für Integrative Medizin eine Studie zum Thema „Akupunktur bei Geschmacksstörungen nach einer Chemotherapie“ und eine Studie zum Thema „Bewegungstherapie gegen Fatigue bei Patientinnen mit metastasiertem Brustkrebs“ durch.
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Was sind Ihre Erfahrungen?
Nach der Krebsdiagnose stehen die Menschen häufig unter Schock. Auch ist ihr Vertrauen in den Körper durch diese heimtückische Krankheit erschüttert. Der Schulmedizin mit Operation und Chemotherapie fühlen die Menschen sich sehr oft ausgeliefert. Sie sehnen sich danach, ihr gefährdetes Leben bis zu einem gewissen Grad selbst in die Hand zu nehmen. Dazu wollen sie meistens konkrete Angebote bekommen.
Durch diese heimtückische Krankheit ist das Vertrauen der Patientinnen und Patienten in ihren Körper oft erschüttert.
Im Unterschied zur konventionellen Onkologie-Sprechstunde, die auf die technischen Aspekte eingeht, unterstützt die Integrative Onkologie die Patientinnen und Patienten in ihrer Selbstwirksamkeit. Neben den erwähnten drei Säulen zeigen wir den Erkrankten und ihren Angehörigen etwa, wie sie mit einem feucht-warmen Schafgarbe-Wickel ihre Leber während des Mittagsschlafs unterstützen. In der Rhythmischen Einreibung lernt der Patient wieder zu entspannen. Über die warmen Hände der Pflegefachperson kann er Wohltuendes und Heilsames in der Berührung empfangen. Durch den Umgang mit Farben und Formen lässt die Kunsttherapie Unbewusstes ins Bewusstsein gelangen. Das Mind Body Medicine Programm verhilft mit Bereichen wie Ernährung oder Bewegung zu einem heilsamen Lebensstil. Ebenso verbessern Heileurythmie, Akupunktur und Misteltherapie die Lebensqualität.
Wie erleben Sie die Arbeit mit Krebskranken?
Ich empfinde es als Privileg, Krebskranke auf ihrem Weg begleiten zu dürfen. Durch die Krankheit machen die Menschen körperlich, seelisch sowie geistig einen Reifeprozess durch und werden zum Wesentlichen geführt. So sagte eine Palliativ-Patientin in einem weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium friedvoll und klar, sie habe sich noch nie so gut gefühlt.
Jubiläumsanlass – 10 Jahre Zentrum für Integrative Medizin
Am Donnerstag, 29. September 2022 veranstaltet das ZIM am Kantonsspital St. Gallen ein Symposium zum Thema „Welchen Beitrag leistet die Integrative Medizin für die Medizin der Zukunft?“.
Weitere Informationen
Dr. med. Marc Schlaeppi ist Gründer und Leiter des Zentrums für Integrative Medizin sowie Leitender Arzt der Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie am Kantonsspital St. Gallen. Er ist Facharzt für Medizinische Onkologie, für Innere Medizin sowie für Anthroposophisch erweiterte Medizin. Er ist Master of Complementary Health Sciences und Lehrbeauftragter für Integrative Medizin an der Universität Zürich.
Bilder: zVg Kantonsspital St. Gallen
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