Von Manuela Fey
Integrative Medizin nimmt den Menschen als Ganzes wahr. Dabei ergänzen sich Komplementär- und Schulmedizin sinnvoll in ihren Stärken und schaffen so einen Mehrwert für die Patientin, den Patienten. Diesem Gesamtkonzept gehört die Zukunft.
«Der Mensch muss im Sinne von Schiller das Empfindungsvermögen schulen und Selbsterkenntnis üben», macht Dr. Marc Schlaeppi das Wesentliche bewusst. Umso notwendiger sei dies in Zeiten der Digitalisierung, in denen eine Entfremdung des Menschen drohe, sagt der Gründer und Leiter des Zentrums für Integrative Medizin (ZIM) am Jubiläumssymposium. Seit zehn Jahren ist das ZIM des Kantonsspitals St. Gallen einer der Wegbereiter der komplementären und integrativen Medizin in der Schweiz und in Europa.
Der Mensch muss im Sinne von Schiller das Empfindungsvermögen schulen und Selbsterkenntnis üben.
Heute haben 34 Mitarbeitende über 12‘000 Patientenkontakte im Jahr und erzielen Spitzenwerte in der Patientenzufriedenheit laut aktueller Patientenumfrage. «Das ZIM entspricht dem Bedürfnis der Bevölkerung», betont der Arzt.
Ganzes begreifen ist wesentlich
Auch wenn die Medizin durch die Orientierung an den Naturwissenschaften viele Erfolge erzielt habe, wäre es ein Reduktionismus, Medizin als blosse angewandte Naturwissenschaft zu begreifen, referiert Prof. Giovanni Maio: «Den Reduktionismus muss man verstehen, um die Bedeutung der Integrativen Medizin zu erfassen.» Grundlage des naturwissenschaftlichen Herangehens sei ein mechanistisches Menschenbild, von dem aus zu wenig nach dem Ineinandergreifen von Körper, Seele und Geist gefragt werde, so der Professor für Medizinethik. Das Typisieren von Menschen in Modellen etwa ist ebenso reduktionistisch wie das Denken in Zahlen oder die manipulative Allianz mit der Technisierung: «Es braucht das Ineinandergreifen von Labor und Lebenswelt, damit Medizin funktioniert.»
Innere Potenziale neu entdecken
Integrative Medizin sieht den Menschen als unverwechselbares Einzelwesen, das auf seine eigene Weise krank wird. Sie muss daher die Krankheit in Zusammenhang mit dem Kranksein bringen: «Man muss den Zugang zum Menschen und Antworten auf vielschichtige Sinn- sowie Lebensfragen finden.» Dies kann nur durch die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte geschehen.
Durch die Integrative Medizin kann Menschen geholfen werden, die eigenen Potenziale neu zu entdecken.
Prof. Giovanni Maio: «Es braucht geduldiges Herangehen in direkten Kontakten.» In einem Prozess muss das Heranreifende begleitet und zugelassen werden. Ebenso wesentlich ist es, ein Grundverständnis zu erarbeiten für die inneren Potenziale eines jeden Menschen, die helfen können: «Durch die Integrative Medizin kann Menschen geholfen werden, die eigenen Potenziale neu zu entdecken.»
Zentrum für Integrative Medizin (ZIM) am Kantonsspital St. Gallen (KSSG)
Aus dem Pilotprojekt auf der Palliativstation am KSSG-Standort Flawil entstand 2012 das ZIM als Organisationseinheit innerhalb des Kantonsspitals St. Gallen. An einem Vollversorgungsspital ausgewählte, breite komplementärmedizinische Massnahmen anzubieten, war damals aussergewöhnlich. Seither ist das ZIM stetig gewachsen, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Heute haben 34 Mitarbeitende über 12‘000 Patientenkontakte im Jahr. Die Patientinnen und Patienten sagten in einer Umfrage im 2022 eine sehr grosse Zufriedenheit aus. 88 Prozent betrug die Rücklaufquote. Das sind Spitzenwerte gemäss der Qualitätsbeauftragten des Kantonsspitals St. Gallen. Mehr zum komplementärmedizinischen Angebot und zu den laufenden Studien des ZIM in der Informationsbox des Artikels: Krebskranke auf allen Ebenen beraten und behandeln.
Digitalisierung ist neue Form der Technik
«Digital Health will die Gesundheitsversorgung und -ergebnisse verbessern», erklärt Prof. Claudia Witt. In einem Forschungsprojekt des Universitätsspitals Zürich beispielsweise unterstützt eine App Krebsbetroffene bei Entspannungsübungen im Alltag, um deren Lebensqualität zu steigern: «Der Patient bestimmt, wie viel eHealth er möchte.»
Digital Health umfasst Hard- und Software wie etwa Geräte, künstliche Intelligenz oder Daten aus diversen Datenbanken. Mit heutigem Entwicklungsstand könnten zum Beispiel individuelle Empfehlungen zur Krebsprävention abgegeben werden, basierend auf Daten aus der medizinischen Versorgung der Person und auf Daten aus der Forschung. «In der Zukunft wird man mithilfe des digitalen Zwillings (virtueller Doppelgänger) die Wirksamkeit einer Therapie simulieren können», so Prof. Claudia Witt.
Digital Health will die Gesundheitsversorgung und -ergebnisse verbessern.
Sie rät, sich an Digitalisierungsprojekten zu beteiligen: «Damit die Integrative Medizin voll miteinbezogen ist.» Auch plädiert die Professorin für eine weise, balancierte Integration von Digital Health. Prof. Giovanni Maio verdeutlicht: «Die Frage ist nicht, ob Digitalisierung sein soll oder nicht, sondern wo sie hilfreich sein kann und wo sie eine Entfremdung bedeuten kann.» Zwischenmenschliche Kontakte würden der Königsweg in der Medizin bleiben: «Diese dürfen nicht als grundsätzlich ersetzbar oder gar verzichtbar angesehen werden.»
Integrativer Medizin gehört die Zukunft
«Die Menschen werden Komplementärmedizin immer nutzen», betont Dr. Yvonne Gilli. Jede Gesellschaft brauchte immer schon Heiler im ganzheitlichen Sinn, so die Präsidentin des Berufsverbandes der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH. Auch bestätigen Umfragen die Beliebtheit von Komplementärmedizin in verschiedenen Ländern. Das Schweizer Stimmvolk verankerte die Komplementärmedizin 2009 in der Bundesverfassung: «Eine gesellschaftspolitische Wegmarke.»
Zwischenmenschliche Kontakte bleiben der Königsweg in der Medizin.
Weniger als zwanzig Prozent der Ärztinnen und Ärzte fühlen sich laut Umfrage kompetent, in Komplementärmedizin zu beraten. «Patienten haben dafür oft keine Ansprechperson in ihrem Hausarzt», stellt Dr. Yvonne Gilli fest. Die Nachfrage nach komplementärer und integrativer Medizin sei gestiegen, die ärztliche Weiter- und Fortbildung dazu daher wesentlich: «Wir sind der Bevölkerung schuldig, Integrative Medizin mit Qualität und Sorgfalt zu erbringen.»
Digitalisierungsprojekt der Komplementärmedizin: Vademecum der Komplementärmedizin und Gemeinsam für eine starke Komplementärmedizin
Dr. med. Marc Schlaeppi ist Gründer und Leiter des Zentrums für Integrative Medizin sowie Leitender Arzt der Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie am Kantonsspital St. Gallen. Er ist Facharzt für Medizinische Onkologie, für Innere Medizin sowie für Anthroposophisch erweiterte Medizin. Er ist Master of Complementary Health Sciences und Lehrbeauftragter für Integrative Medizin an der Universität Zürich.
Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M.A. phil., hat den Lehrstuhl für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, Baden-Württemberg, Deutschland, inne. Er ist Direktoriumsmitglied des Interdisziplinären Ethik-Zentrums Freiburg, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin und Mitglied des Ausschusses für ethische und juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer. Er war langjährig internistisch-klinisch tätig.
Prof. Dr. med. Claudia Witt ist ordentliche Professorin für Komplementär- und Integrative Medizin an der Medizinischen Fakultät und Co-Direktorin der Digital Society Initiative der Universität Zürich, Direktorin des Instituts für komplementäre und integrative Medizin am Universitätsspital Zürich und Professorin für Primary Care an der University of Maryland School of Medicine in Baltimore, USA. Sie ist Ärztin, Epidemiologin und Master of Business Administration für Health Care Management.
Dr. med. Yvonne Gilli ist die erste Frau als Präsidentin des Berufsverbandes der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH. Sie ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin mit Fähigkeitsausweisen FMH in klassischer Homöopathie sowie Traditioneller Chinesischer Medizin und führt eine Gemeinschaftspraxis mit den Schwerpunkten Komplementärmedizin, Gynäkologie sowie psychologische Beratung in Wil SG. Sie ist alt Nationalrätin und dipl. Pflegefachfrau AKP (allgemeine Krankenpflege).
Bilder: zVg Kantonsspital St. Gallen, pixabay
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2 Kommentare
Hallo Manuela,
ich möchte mich herzlich für diesen informativen Artikel über integrative Medizin bedanken. Es ist erfrischend zu sehen, wie du die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes für die Gesundheitsversorgung hervorhebst.
In einer Welt, in der es manchmal so leicht ist, sich auf rein schulmedizinische Lösungen zu verlassen, erinnert uns dein Artikel daran, dass alternative und ergänzende Ansätze oft genauso wichtig sein können. Die Betonung der Bedeutung von Ernährung, Bewegung und mentaler Gesundheit in Verbindung mit traditioneller medizinischer Behandlung ist wirklich inspirierend.
Liebe Jennifer, vielen Dank für deine Rückmeldung – die Integrative Medizin, also die Kombination von herkömmlicher Medizin und komplementärmedizinischen Methoden und Arzneimitteln, ist auf dem Vormarsch. Auf millefolia.ch findest du weitere Artikel dazu, beispielsweise zu einem Wissenschaftskongress, der sich kürzlich dem Thema widmete: „Integrative Medizin – das Beste aus zwei Welten“. Viel Vergnügen bei der Lektüre!