Startseite Therapien und Methoden Integrativmedizin ist wie ein Klavier mit vielen Tasten

Integrativmedizin ist wie ein Klavier mit vielen Tasten

von Olaf Müller
Betagter Mann im Rollstuhl wird von Pflegerin im Park ausgeführt

Die Integrativ­­medizin ist im Kantons­­spital St. Gallen fest veran­kert, ganz beson­ders in der Palliativ­medizin. Dr. med. Corrado Bertotto verdeut­licht im Inter­view die tragende Rolle der Komple­men­tär­medizin bei unheil­baren Krank­heiten und am Lebens­ende.

Interview: Tanya Karrer

Herr Bertotto, als Inte­grativ­medi­ziner begleiten Sie unter anderem unheilbar kranke Menschen. Integrativ- und Pallia­tivmedizin: eine ungewöhn­liche Kombi­nation?

Torso-Porträt eines mittel­alten Mannes mit krausem grauem Haar und BrilleÜberhaupt nicht. In beiden Diszi­plinen steht die Multi­dimen­sionalität der Patientin oder des Patienten im Zentrum. In der Pallia­tiv­medizin schaut man nicht nur auf den Körper, sondern bezieht auch das Umfeld, die Psycho­logie und spiritu­elle Aspekte mit ein. Ähnlich wie in der Komple­men­tär­medizin. Die beiden Diszi­plinen befruchten sich auch gegen­seitig. Deswegen fühle ich mich in beiden Welten so zu Hause.

Was kann denn die Komple­men­tär­medizin am Lebens­ende noch bewirken? Ginge es nicht auch ohne?

Ein grosses Thema in der Palliativ­medizin ist die Symptom­kon­trolle, insbesondere Schmerzen, Fatigue, Angst, Übel­keit und Schlaf. Ich ver­gleiche die Integrativ­medizin gerne mit einem Klavier. Die Palliativ­medizin hat wert­volle Tasten, also thera­peu­tische Möglich­keiten, um der Patientin die Schmerzen zu nehmen.

Es wäre unsinnig, die Möglich­keiten der Komple­men­tär­medizin nicht zu nutzen.

Aber manch­mal mit vielen Neben­wirkungen und auf Kosten der Lebens­qualität. Die Komple­men­tär­medizin fügt der Medizin weitere Tasten hinzu. Zum Beispiel, um die Lebens­qualität zu steigern. Es wäre schlicht unsinnig, diese Tasten, all diese Möglichkeiten, nicht zu nutzen!

Welche Möglichkeiten der Komple­men­tär­medizin nutzen Sie?

Hier im Kantons­spital St. Gallen haben wir Anthro­poso­phische und Chine­sische Medizin, Osteo­pathie und Mind-Body-Medizin. Homöo­pathie und Phyto­therapie sind weitere Tasten, die gespielt werden können. Wie gesagt, wir arbeiten inte­grativ und inter­disziplinär.

Dr. med. Corrado Bertotto

Dr. med. Corrado Bertotto ist Facharzt der Allge­mein­medizin und anthro­poso­phischer Arzt am Zentrum für Inte­grativ­medizin des Kantons­spitals St. Gallen. Er arbei­tete zuvor in der Palli­ativmedizin und baute die Onko­logie der Ita Wegman Klinik in Arles­heim auf.

Wie muss ich mir das vorstellen?

Auf der Palliativ­station gibt es den inter­profes­sionellen Rapport. Hier kommen Vertreter aus verschie­denen Diszi­plinen zusammen, um die Möglich­keiten der Patienten zu besprechen. Die Palliativ­medizin ist darin vertreten, die Komple­men­tär­medizin, aber auch der Seelsorger sitzt dabei, die Psycho-Onko­logie, die Ernäh­rung­sberatung, der Physio­thera­peut oder die Ergo­thera­peutin. Dies ergibt eine thera­peutische Gemein­schaft, in deren Zentrum der Patient mit seinen Bedürf­nissen steht.

Die Integrativ­medizin geniesst einen hohen Stellen­wert im Kantons­spital St. Gallen.

Ja, wir haben ein einzig­artiges System. Alle Spital­abtei­lungen dürfen bei uns im Zentrum für Inte­grative Medizin Konzilien verlangen. Zudem verfügen wir über eine mobile inte­gra­tive Pflege. Diese besucht mit dem Koffer die Stationen, um vor Ort Wickel und Einrei­bungen zu machen, oder um zu schulen. Die Stationen der Palliativmedizin, der Onkologie, der Rheuma­tologie und der Neuro­logie wiederum sind selbst in Komple­men­tär­medizin geschult, sodass sie selbst­ständig Anwen­dungen vornehmen können. Die Aroma­therapie wird auf allen Abtei­lungen einge­setzt. Das ist einzig­artig.

Baum steht auf einem Hügel in der Abenddämmerung vor einem dunkelblauen Sternenhimmel

Die Thera­pien werden in der Pallia­tive Care gegen das Ende immer imma­teri­eller – so wie der Patient auch.

Wer finanziert dies?

Viele komple­men­tär­medizi­nische Thera­pien sind über die Grund­ver­sicherung abge­golten, andere nur über die Zusatz­versiche­rung. Ich spüre eine Tendenz, die Inte­grativ­medizin auf die Zusatz­versi­cherung schieben zu wollen. Aber nicht alle Patienten verfügen über eine Zusatz­versiche­rung.

Unsere Vision ist eine kompe­tente, indivi­duali­sierte, inte­grative Medizin für alle.

Unsere Vision ist eine kompe­tente, indi­vidu­ali­sierte, inte­grative Medizin für alle. Das heisst wissen­schaft­lich fundiert und demo­kratisch. Schliess­lich stimmte das Volk 2009 für die Komple­men­tär­medizin.

Apropos wissen­schaft­lich fundiert. Wie steht es um die Evidenz?

Die evidenzbasierte Medizin fusst gemäss Definition nicht nur auf statistischen Studien, sondern auch auf der Erfahrung der Ärztin oder des Arztes und den Werten und Wünschen der Patientin oder des Patienten. Was die Studien betrifft, so gab es vor etwa 15 Jahren eine Wende. Seither entstehen viele gute Studien. Aber die Komple­men­tär­medizin hat keine grossen, finanzierenden Pharmaunternehmen im Rücken. Es ärgert mich aber auch der Refrain, es gäbe keine guten Studien für die Komple­men­tär­medizin. Das stimmt nicht, es gibt immer mehr. Aber diese müssen auch gelesen werden!

Hand eines jungen Menschen liegt sanft auf der Schulter einer betagten Frau

Gegen das Lebens­­ende hin ist es beson­­ders wichtig, den Menschen in seiner Ganz­­heit zu betrachten.

Wie zum Beispiel die­jenige über die Mistel­therapie bei inope­rablem Bauch­speichel­drüsen­krebs?

Sie ist frappant. Die Patienten wurden in zwei Gruppen geteilt, die einen erhielten Mistel, die anderen nicht. Die Mistelgruppe hatte ein­deutig weniger Schmerzen, Fatigue, Gewichts­verlust, Nausea und Schlaf­losig­keit als die Ver­gleichs­gruppe. Die Studie wird zur­zeit in Skandi­navien multi­zen­trisch wiederholt. Ich bin gespannt auf die Resul­tate. Die Mistel wirkt auf das Immun­system. Wir planen an unserer Forschungs­abtei­lung nun ebenfalls zwei Studien zur Pflanze.

Womit begleiten Sie Ihre Patien­ten, neben Mistel­thera­pien, noch?

Zwei Drittel unserer Patien­ten werden nur ambulant behandelt. Wir kontrol­lieren ihre Symp­tome. Manchmal stehen sie auch mit Säcken voller Natur­arz­nei­mittel vor uns. Wir prüfen deren Inter­ak­tionen, beispiels­weise mit der Chemo­therapie, und sortieren unnötige aus. Gleich­zeitig schauen wir, wie wir mit Komple­men­tär­medizin die Neben­wirk­ungen lindern können.

Die Patienten liegen noch gar nicht im Sterben?

Am Ende des Lebens wird Pallia­tiv­medizin tat­säch­lich zu Sterbe­beglei­tung. Aber die soge­nannte Early Pallia­tive Care, ein neueres Konzept, setzt schon ein, wenn eine Patientin eine Diagnose für eine unheil­bare Krank­heit erhält. Wie eine Studie zeigt, wirkt sich eine frühe pallia­tive Inter­vention lebens­verlän­gernd aus.

Sie sehen in der Early Pallia­tive Care grosses Poten­zial für die inte­gra­tive Palliativ­medizin. Inwie­fern?

Baum steht auf einem Hügel in der Abenddämmerung vor einem dunkelblauen SternenhimmelSie verbessert die Lebens­qualität und kann die gesunden Kräfte mobili­sieren und so das Leben verlän­gern. Für die Patienten ist es wichtig, Selbst­wirk­samkeit zu erfahren. Wir streben deshalb eine Early Pallia­tive Care und auch eine Early Integrated Medicine an. Ein Beispiel ist unser zehn­wöchiges Mind-Body-Programm. Die Patienten lernen, wie sie über Bewe­gung, Ernäh­rung, Acht­samkeit, Wickel, Kom­pressen und Komple­men­tär­medizin ihre Lebens­qualität stei­gern können.

Funktioniert das Programm?

Zu Beginn war ich ein wenig skeptisch. Nun bin ich begei­stert, die Wesens­verän­derungen sind markant. Die Teil­neh­menden erlangen ein neues Bewusst­sein für ihren Zustand.

Ist die Medizin am Lebens­ende freier?

Unsere Proto­kolle sind tat­säch­lich weniger streng, wir haben auch mehr Zeit für die Patienten als Ärzte anderer Fach­richtungen.

Sie sagen, als Arzt, der Patien­ten am Lebens­ende begleitet, seien Sie auch ein Künstler.

Der letzte Weg eines Patienten ist sehr indi­vidu­ell. Es gibt Krisen, Kanten, Tief- und Höhe­punkte. Auf das Ende zu werden die Thera­pien stets immate­rieller, wie der Patient auch: Klang­therapie, Aroma­therapie, Eurhythmie am Bett. Wenn er stirbt, soll alles rund sein. Um beim Klavier zu bleiben: Die gedrückten Tasten sollen eine schöne Musik spielen.

Palliative Care

Die Palliativmedizin / Palliative Care trägt zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit unheilbaren und lebensbedrohlichen Erkrankungen bei. Sie umfasst dabei körperliche, psychosoziale und spirituelle Aspekte. Die Early Palliative Care ist ein neueres Konzept. Sie setzt unmittelbar nach der Diagnose einer unheilbaren Erkrankung ein. Eine frühe Intervention kann lebensverlängernd wirken.


Weitere Artikel aus dem Millefolia-Bulletin 38

Getrocknete Shiitake-Pilze liegen auf einer hölzernen Unterlage
Gesund mit Vital­pilzen

In Asien gelten Vital- oder Medizinal­­pilze als eines der wichtig­sten Mittel zur Stär­kung des Menschen. Sie werden auch bei uns immer öfter einge­­setzt, so etwa im Kantons­­spital Baden. weiterlesen >

Grüne Knospen an frisch gewachsenem Zweig
Gemmo­therapie – Heil­wirkung aus der Knospe

In der Gemmo­­­therapie macht man sich die hei­lende Wir­kung von frischen Pflanzen­­­knospen bei akuten und chroni­­schen Beschwerden zunutze. weiterlesen >

Roter herzförmiger Luftballon vor blauem Himmel mit Wölkchen
Herz und Kreislauf stärken mit Komplementärmedizin

Natür­­­liche Mittel der Phyto­­­­therapie und der Tradi­tio­­­­nellen Chinesi­­­­schen Medizin (TCM) können das kardio­­­vasku­­­­läre Risiko senken und das Herz stärken. weiterlesen >


Bilder: istockphoto-599480206 / zVg, Zentrum für Inte­grativ­medizin des Kantons­spitals St. Gallen / Jeremy Bishop-225533 ― Pexels.com / zVg, KIM_KSSG  / Rawpixel ― Freepik.com

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Jede noch so kleine Spende hilft, künftige Beiträge zu ermöglichen. Herzlichen Dank!

Diesen Beitrag teilen

Schreiben Sie einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Bleiben Sie informiert

und erhalten Sie per E-Mail eine Auswahl der besten Artikel und Informationen.

 

Millefolia:
natürlich
gesund
vielseitig

 

Millefolia-Newsletter: ausgewählte Artikel, Tipps und Veranstaltungen
Dakomed-Newsletter: Informationen zu politischen Entwicklungen und Verbandsaktivitäten

Welche unserer Newsletter möchten Sie abonnieren?

Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail gesendet, bitte bestätigen Sie Ihre Anmeldung durch Klick auf den Link.

Tenez-vous au courant

en recevant par courriel une sélection des meilleurs articles et informations. 

 

Millefolia :
Nature
Santé
Diversité

 

Infolettre Millefolia : articles choisis, conseils, manifestations
Infolettre Fedmedcom : informations sur l’évolution politique et les activités des associations

Infolettres désirées

Merci beaucoup ! Nous vous avons envoyé un e-mail, veuillez confirmer votre inscription en cliquant sur le lien.