Die Integrativmedizin ist im Kantonsspital St. Gallen fest verankert, ganz besonders in der Palliativmedizin. Dr. med. Corrado Bertotto verdeutlicht im Interview die tragende Rolle der Komplementärmedizin bei unheilbaren Krankheiten und am Lebensende.
Interview: Tanya Karrer
Herr Bertotto, als Integrativmediziner begleiten Sie unter anderem unheilbar kranke Menschen. Integrativ- und Palliativmedizin: eine ungewöhnliche Kombination?
Überhaupt nicht. In beiden Disziplinen steht die Multidimensionalität der Patientin oder des Patienten im Zentrum. In der Palliativmedizin schaut man nicht nur auf den Körper, sondern bezieht auch das Umfeld, die Psychologie und spirituelle Aspekte mit ein. Ähnlich wie in der Komplementärmedizin. Die beiden Disziplinen befruchten sich auch gegenseitig. Deswegen fühle ich mich in beiden Welten so zu Hause.
Was kann denn die Komplementärmedizin am Lebensende noch bewirken? Ginge es nicht auch ohne?
Ein grosses Thema in der Palliativmedizin ist die Symptomkontrolle, insbesondere Schmerzen, Fatigue, Angst, Übelkeit und Schlaf. Ich vergleiche die Integrativmedizin gerne mit einem Klavier. Die Palliativmedizin hat wertvolle Tasten, also therapeutische Möglichkeiten, um der Patientin die Schmerzen zu nehmen.
Es wäre unsinnig, die Möglichkeiten der Komplementärmedizin nicht zu nutzen.
Aber manchmal mit vielen Nebenwirkungen und auf Kosten der Lebensqualität. Die Komplementärmedizin fügt der Medizin weitere Tasten hinzu. Zum Beispiel, um die Lebensqualität zu steigern. Es wäre schlicht unsinnig, diese Tasten, all diese Möglichkeiten, nicht zu nutzen!
Welche Möglichkeiten der Komplementärmedizin nutzen Sie?
Hier im Kantonsspital St. Gallen haben wir Anthroposophische und Chinesische Medizin, Osteopathie und Mind-Body-Medizin. Homöopathie und Phytotherapie sind weitere Tasten, die gespielt werden können. Wie gesagt, wir arbeiten integrativ und interdisziplinär.
Dr. med. Corrado Bertotto
Dr. med. Corrado Bertotto ist Facharzt der Allgemeinmedizin und anthroposophischer Arzt am Zentrum für Integrativmedizin des Kantonsspitals St. Gallen. Er arbeitete zuvor in der Palliativmedizin und baute die Onkologie der Ita Wegman Klinik in Arlesheim auf.
Wie muss ich mir das vorstellen?
Auf der Palliativstation gibt es den interprofessionellen Rapport. Hier kommen Vertreter aus verschiedenen Disziplinen zusammen, um die Möglichkeiten der Patienten zu besprechen. Die Palliativmedizin ist darin vertreten, die Komplementärmedizin, aber auch der Seelsorger sitzt dabei, die Psycho-Onkologie, die Ernährungsberatung, der Physiotherapeut oder die Ergotherapeutin. Dies ergibt eine therapeutische Gemeinschaft, in deren Zentrum der Patient mit seinen Bedürfnissen steht.
Die Integrativmedizin geniesst einen hohen Stellenwert im Kantonsspital St. Gallen.
Ja, wir haben ein einzigartiges System. Alle Spitalabteilungen dürfen bei uns im Zentrum für Integrative Medizin Konzilien verlangen. Zudem verfügen wir über eine mobile integrative Pflege. Diese besucht mit dem Koffer die Stationen, um vor Ort Wickel und Einreibungen zu machen, oder um zu schulen. Die Stationen der Palliativmedizin, der Onkologie, der Rheumatologie und der Neurologie wiederum sind selbst in Komplementärmedizin geschult, sodass sie selbstständig Anwendungen vornehmen können. Die Aromatherapie wird auf allen Abteilungen eingesetzt. Das ist einzigartig.
Wer finanziert dies?
Viele komplementärmedizinische Therapien sind über die Grundversicherung abgegolten, andere nur über die Zusatzversicherung. Ich spüre eine Tendenz, die Integrativmedizin auf die Zusatzversicherung schieben zu wollen. Aber nicht alle Patienten verfügen über eine Zusatzversicherung.
Unsere Vision ist eine kompetente, individualisierte, integrative Medizin für alle.
Unsere Vision ist eine kompetente, individualisierte, integrative Medizin für alle. Das heisst wissenschaftlich fundiert und demokratisch. Schliesslich stimmte das Volk 2009 für die Komplementärmedizin.
Apropos wissenschaftlich fundiert. Wie steht es um die Evidenz?
Die evidenzbasierte Medizin fusst gemäss Definition nicht nur auf statistischen Studien, sondern auch auf der Erfahrung der Ärztin oder des Arztes und den Werten und Wünschen der Patientin oder des Patienten. Was die Studien betrifft, so gab es vor etwa 15 Jahren eine Wende. Seither entstehen viele gute Studien. Aber die Komplementärmedizin hat keine grossen, finanzierenden Pharmaunternehmen im Rücken. Es ärgert mich aber auch der Refrain, es gäbe keine guten Studien für die Komplementärmedizin. Das stimmt nicht, es gibt immer mehr. Aber diese müssen auch gelesen werden!
Wie zum Beispiel diejenige über die Misteltherapie bei inoperablem Bauchspeicheldrüsenkrebs?
Sie ist frappant. Die Patienten wurden in zwei Gruppen geteilt, die einen erhielten Mistel, die anderen nicht. Die Mistelgruppe hatte eindeutig weniger Schmerzen, Fatigue, Gewichtsverlust, Nausea und Schlaflosigkeit als die Vergleichsgruppe. Die Studie wird zurzeit in Skandinavien multizentrisch wiederholt. Ich bin gespannt auf die Resultate. Die Mistel wirkt auf das Immunsystem. Wir planen an unserer Forschungsabteilung nun ebenfalls zwei Studien zur Pflanze.
Womit begleiten Sie Ihre Patienten, neben Misteltherapien, noch?
Zwei Drittel unserer Patienten werden nur ambulant behandelt. Wir kontrollieren ihre Symptome. Manchmal stehen sie auch mit Säcken voller Naturarzneimittel vor uns. Wir prüfen deren Interaktionen, beispielsweise mit der Chemotherapie, und sortieren unnötige aus. Gleichzeitig schauen wir, wie wir mit Komplementärmedizin die Nebenwirkungen lindern können.
Die Patienten liegen noch gar nicht im Sterben?
Am Ende des Lebens wird Palliativmedizin tatsächlich zu Sterbebegleitung. Aber die sogenannte Early Palliative Care, ein neueres Konzept, setzt schon ein, wenn eine Patientin eine Diagnose für eine unheilbare Krankheit erhält. Wie eine Studie zeigt, wirkt sich eine frühe palliative Intervention lebensverlängernd aus.
Sie sehen in der Early Palliative Care grosses Potenzial für die integrative Palliativmedizin. Inwiefern?
Sie verbessert die Lebensqualität und kann die gesunden Kräfte mobilisieren und so das Leben verlängern. Für die Patienten ist es wichtig, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Wir streben deshalb eine Early Palliative Care und auch eine Early Integrated Medicine an. Ein Beispiel ist unser zehnwöchiges Mind-Body-Programm. Die Patienten lernen, wie sie über Bewegung, Ernährung, Achtsamkeit, Wickel, Kompressen und Komplementärmedizin ihre Lebensqualität steigern können.
Funktioniert das Programm?
Zu Beginn war ich ein wenig skeptisch. Nun bin ich begeistert, die Wesensveränderungen sind markant. Die Teilnehmenden erlangen ein neues Bewusstsein für ihren Zustand.
Ist die Medizin am Lebensende freier?
Unsere Protokolle sind tatsächlich weniger streng, wir haben auch mehr Zeit für die Patienten als Ärzte anderer Fachrichtungen.
Sie sagen, als Arzt, der Patienten am Lebensende begleitet, seien Sie auch ein Künstler.
Der letzte Weg eines Patienten ist sehr individuell. Es gibt Krisen, Kanten, Tief- und Höhepunkte. Auf das Ende zu werden die Therapien stets immaterieller, wie der Patient auch: Klangtherapie, Aromatherapie, Eurhythmie am Bett. Wenn er stirbt, soll alles rund sein. Um beim Klavier zu bleiben: Die gedrückten Tasten sollen eine schöne Musik spielen.
Palliative Care
Die Palliativmedizin / Palliative Care trägt zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit unheilbaren und lebensbedrohlichen Erkrankungen bei. Sie umfasst dabei körperliche, psychosoziale und spirituelle Aspekte. Die Early Palliative Care ist ein neueres Konzept. Sie setzt unmittelbar nach der Diagnose einer unheilbaren Erkrankung ein. Eine frühe Intervention kann lebensverlängernd wirken.
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Bilder: istockphoto-599480206 / zVg, Zentrum für Integrativmedizin des Kantonsspitals St. Gallen / Jeremy Bishop-225533 ― Pexels.com / zVg, KIM_KSSG / Rawpixel ― Freepik.com
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