Tido von Schoen-Angerer behandelt in seiner Genfer Arztpraxis Kinder mit Integrativer Medizin. Im Interview erläutert er, warum Kinder besonders auf Komplementärmedizin angewiesen sind, warum viele Pädiaterinnen und Pädiater sie gerne anwenden würden, aber nicht können, und warum die Schweiz eine internationale Vorreiterrolle hat.
Interview: Lukas Fuhrer
Tido von Schoen-Angerer, in einer Umfrage unter Schweizer Kinderärztinnen und -ärzten geben fast alle, nämlich 97 Prozent, an, dass sie schon von Eltern nach komplementärmedizinischen Behandlungsmethoden gefragt worden sind. Das Vertrauen in diese Medizin scheint gross zu sein?
Tido von Schoen-Angerer: Das Interesse und das Vertrauen sind gross, ja. Viele Eltern wollen ihre Kinder so natürlich und schonend wie möglich behandeln. Gerade jüngere Eltern versuchen, nachhaltig zu leben, und dazu gehört auch eine nachhaltige Medizin mit ressourcenschonend hergestellten Naturheilmitteln.
Gegner der Komplementärmedizin möchten diese am liebsten aus der Grundversicherung streichen. Was antworten Sie diesen Leuten?
Das wäre komplett gegenläufig zur Strategie der Weltgesundheitsorganisation WHO und zu den Erfahrungen der letzten Jahre: Die Bevölkerung will die Komplementärmedizin, die sichere Anwendung ist gewährleistet und erforscht. In der Schweiz ist es so, dass wir eine lange Tradition in der Kräutermedizin haben, aber auch allgemein im Verhältnis zur Natur. Und dieser Mensch-Natur-Bezug wird immer wichtiger für unsere Lebensweise. Das nun wieder zu kappen – ich glaube nicht, dass dies dem Volkswillen entspräche.
Für die Behandlung von Kindern ist Komplementärmedizin sogar besonders wichtig, weil der Einsatz von herkömmlichen Medikamenten oft riskant ist – wegen möglicher Nebenwirkungen, und weil die Dosierung schwierig ist, da die Studien für die Zulassungen nur mit Erwachsenen durchgeführt werden. Gibt es dafür besonders deutliche Praxisbeispiele?
Das ist natürlich ein allgemeines Problem, dass es zu einem Arzneimittel nicht genügend Forschung bei Kindern gibt und man in der Behandlung dann extrapoliert. Aber hochriskante Medikamente sind bei uns ja nicht ein primäres Problem. Nehmen wir hingegen das Beispiel Kortison: Das wird mittlerweile auch für leichten Pseudokrupp-Husten verwendet, und wenn sich das vermeiden lässt, ist es natürlich besser. Bei einer schweren Infektion verwenden wir natürlich Antibiotika, das ist keine Frage, aber der Überverbrauch lässt sich mit Alternativen aus der Komplementärmedizin senken.
Für mich ist ein wichtiges Thema das Fieber beim Kind: Weiterhin herrscht im Schweizerischen Gesundheitssystem die Empfehlung vor, Fieber zu senken, mit Dafalgan, Algifor etc. Das ist eigentlich gegen die derzeitige wissenschaftliche Evidenz. Wir wissen, dass Fieber gut und nützlich ist, eine gesunde Immunantwort.
Wir wissen, dass Fieber gut und nützlich ist, eine gesunde Immunantwort.»
Wenn wir den Eltern nun aber immer Fiebersenker mitgeben, da wir in der konventionellen Medizin gar nichts anderes haben, sagen wir damit: Fieber ist schlecht, Ihr Kind kann damit nicht umgehen. Wir setzen auf Unterdrückung der Symptome, anstatt auf Selbstheilung und Gesundheitserhaltung. In meinen Gesprächen mit den Eltern ist das ein zentrales Thema, dass man Symptome nicht wegzaubern muss, sondern etwa Wadenwickel oder pflanzliche Mittel anwenden kann, die lindern, ohne primär das Fieber zu senken. Wir wollen eine Medizin pflegen, die ganzheitlich und gesundheitserhaltend ist und die so viel wie möglich die Selbstheilungskräfte stützt. Und dieser Umstieg im Denken fängt bei ganz einfachen Dingen an, wie eben beispielsweise beim Fieber.
Traditionelle und Komplementäre Medizin weltweit im Trend
Die Bedeutung der Komplementärmedizin nimmt international zu. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 2023 erstmals einen Gipfel zu Traditioneller und Komplementärer Medizin durchgeführt und betont deren Bedeutung für das globale Gesundheitswesen. Und der Markt für Produkte und Leistungen der Komplementärmedizin wächst rasant – in Europa von 33 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf 125 Milliarden im Jahr 2028, wie das Marktforschungsunternehmen «Research and Markets» in einem Report prognostiziert.
Nur 16 Prozent der Kinderärztinnen und -ärzte wenden in der Schweiz auch tatsächlich Komplementärmedizin an, das zeigt die oben erwähnte Studie. Hält sich die althergebrachte Denkweise so hartnäckig, oder was ist der Grund?
Fast alle Pädiater werden nach Komplementärmedizin gefragt, aber die Ausbildung ist nicht in diesem Sinne ausgerichtet. Zwar müssen alle Universitäten im Medizinstudium eine Einführung geben, das ist im Verfassungsartikel 118a verankert, aber eine strukturierte Weiterbildung in der Facharztausbildung fehlt. Über 60 Prozent der Kinderärzte gaben in der Befragung an, dass sie unzureichende Kenntnisse der Komplementärmedizin haben und an Weiterbildungen interessiert wären – das ist die Lücke, die besteht.
Müssen die Ärztinnen und Ärzte sich nicht selbst um Weiterbildungen in Komplementärmedizin bemühen?
Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte können das natürlich tun, klar. Aber aus drei Gründen gehört die Komplementärmedizin schon in die Grundausbildung der Fachärzte für allgemeine innere Medizin und Kinderheilkunde: Erstens wegen der Sicherheit – die Menschen nutzen die Komplementärmedizin, sie haben Fragen dazu. Und darum muss die Ärztin auch kompetent beraten können. Zweitens muss die Gesundheitsversorgung auf die medizinischen Probleme der Menschen eingehen, aber auch auf ihre Präferenzen.
Rund ein Drittel der Bevölkerung nutzt die Komplementärmedizin, und darauf müssen wir reagieren.»
Es ist doch eine Nachfrage der Bevölkerung in der Schweiz da, rund ein Drittel nutzt die Komplementärmedizin, und darauf müssen wir reagieren. Und drittens hat sich in den vergangenen Jahren viel entwickelt, es gibt für viele Methoden gute wissenschaftliche Evidenz, und dieses Wissen muss vermittelt werden.
Sie sind ein klassischer Grundversorger, mit Ihrer Praxisgemeinschaft in einem Aussenquartier von Genf sind Sie nah bei den Leuten, im Gebäude befindet sich auch eine Apotheke, eine Masseurin, eine Kinesiologie-Praxis – wie arbeiten Sie mit ihren Nachbarn zusammen?
Die Apotheke nebenan hält viele phytotherapeutische, anthroposophische und homöopathische Arzneimittel bereit und hat auch Erfahrung in der magistralen Herstellung, also zum Beispiel in der Zubereitung von Zäpfchen mit ätherischen Ölen. Meine Praxisnachbarin ist Kinderärztin mit Schwerpunkt Phytotherapie, wir haben beide einen ähnlichen Ansatz, indem wir versuchen, eine gute integrative Kinderheilkunde zu machen, das heisst, eine gute konventionelle Kinderheilkunde anzubieten und diese mit Phytotherapie und anthroposophischer Medizin zu erweitern. Die meisten pädiatrischen Probleme im Alltag kann man auf natürliche Weise lösen.
Die Komplementärmedizin beinhaltet auch zahlreiche manuelle Methoden, die von diplomierten Therapeutinnen und Therapeuten praktiziert werden. Spielen diese in der Pädiatrie auch eine Rolle?
Ja, für mich sind sie essenziell, ich überweise Kinder an die Osteopathie, an die Kinesiologie, an die Kunsttherapie. Ich denke, auch innerhalb der Komplementärmedizin sollten wir integrativ zusammenarbeiten, da keiner für alles eine Lösung hat.
Dr. med. Tido von Schoen-Angerer
Tido von Schoen-Angerer ist Kinderarzt mit eigener Praxis mit anthroposophisch-integrativer Ausrichtung in Genf. Er forscht am Kinderspital der Universität Genf und an der Charité Berlin zur Komplementärmedizin. Er arbeitet in verschiedenen internationalen Boards zum Thema, so als Präsident der Internationalen Vereinigung für anthroposophische Ärztegesellschaften und als Präsident der Traditional, Complementary and Integrative Healthcare Coalition, die weltweit über 300 Organisationen umfasst.
Tido von Schoen-Angerer hat Mandate der Weltgesundheitsorganisation WHO und arbeitete an deren Strategie zur Traditionellen, Integrativen, Komplementären Medizin mit.
Die Gegner der Komplementärmedizin ziehen immer wieder pauschal deren Wirksamkeit in Zweifel. Sie forschen am Kinderspital der Universität Genf und an der Charité Berlin, was sagen Sie aus wissenschaftlicher Sicht dazu?
Wir haben zunehmende Wirksamkeitsnachweise, in vielen Bereichen ausgezeichnete, bei Akupunktur bei Schmerzen beispielsweise. Evidenzbasierte Medizin heisst ja, den besten verfügbaren wissenschaftlichen Nachweis zu nutzen, die klinische Erfahrung und die Patientenpräferenzen. Das sind die drei Säulen der evidenzbasierten Medizin, und eben nicht nur die randomisierte klinische Studie.
Man will Evidenz, aber man will nicht investieren, das ist doch keine ehrliche Debatte.»
Also: Es gibt zum Teil gute Evidenz, aber wir benötigen dringend mehr Investition in die Forschung. Und da verstehe ich den Nationalfonds nicht, warum er das nicht als Ziel definiert. Die Schweiz verfügt über grossartige Forscher, aber sie haben erhebliche Schwierigkeiten, Studien zu finanzieren. Solange im Bereich der konventionellen Medizin geforscht wird: super. Aber komplementäre Forschung ist extrem schwierig finanziert zu bekommen. Und da beisst sich die Katze in den Schwanz: Man will Evidenz, aber man will nicht investieren, das ist doch keine ehrliche Debatte.
Sind das politische Entscheide?
Ja, natürlich, das ist Medizinpolitik, und bei den Entscheidungsträgern gibt es viele Vorurteile – und es gibt sicher auch viel Unwissenheit. Aber auch als Komplementärmediziner will ich mehr Forschung haben, will ich mehr Publikationen sehen. Deshalb machen wir das ja schliesslich.
Sie haben als internationaler Forscher an den Zielen der Weltgesundheitsorganisation WHO zur Komplementärmedizin mitgeschrieben. Wie sehen diese Ziele aus?
Die neue Strategie der WHO zur Traditionellen, Integrativen, Komplementären Medizin geht Anfang 2025 in die Verabschiedung durch die WHO-Mitgliedsstaaten. Sie hat diese vier Ziele: Erstens Integrierung in die Gesundheitsversorgung, zweitens eine angemessene Regulierung, drittens Forschung, viertens den Ansatz der Traditionellen Komplementärmedizin übergreifend für eine nachhaltigere Gesellschaft und ein gesundes Leben zu nutzen.
Und wo stehen wir heute in der Schweiz punkto Erreichen dieser Ziele?
Die Schweiz hat viel erreicht, seit der Volksabstimmung 2009. Eine Aufnahme in die Gesundheitsversorgung findet statt, in manchen Spitälern und Praxen, aber es gibt noch keine durchgehende Integrierung. Dann haben wir eine angemessene Regulierung, also die Zulassung der Arzneimittel durch Swissmedic, da hat die Schweiz sogar einen gewissen Vorzeigecharakter. In der Ausbildung haben wir die Weiterbildungsdiplome für die Ärzte, für die Naturheilpraktikerinnen und die Komplementärtherapeuten. Da liegen wir gut. Hingegen Forschung gibt es eben nicht genügend.
Wir können stolz sein auf das, was wir tun, auch im internationalen Vergleich.»
Wir sind also auf gutem Weg, es gibt noch Lücken zu schliessen, aber wir können stolz sein auf das, was wir tun, auch im internationalen Vergleich. Und noch einmal: Jetzt zu fordern, ärztliche Komplementärmedizin wieder aus der Grundversicherung auszuschliessen, ist komplett gegenläufig zu allen aktuellen Entwicklungen.
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Bilder: Portraits Tido von Schoen-Angerer ― Miriam Kolmann, Bern / Askew ― Unsplash.com / cottonbro Studio ― Pexels.com / Ramin Talebi ― Unsplash.com / Patty Brito ― Unsplash.com
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1 Kommentar
Leider gelangen jetzt schon viele Kinderärzte und auch Hausärzte an eine Kapazitätsgrenze. Wenn sie auch noch die Arbeit der vielen Alternativmediziner und Komplementärtherapeuten übernehmen möchten, wird es noch schwieriger in Zukunft einen Termin zu bekommen. Es wäre doch um einiges wertvoller und nutzenstiftender für alle Beteiligten, wenn die Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsfachpersonen weiter gefördert und ausgebaut wird. So können Ärzte entlastet werden und ein gut funktionierendes Netzwerk ausgebaut werden. Die Integration aller Fachpersonen in einer Praxis wäre sehr zukunftsorientiert.