Von Wiebke Dibbern
Die gebürtige Südtirolerin Ingrid Seebacher hat einen pflegerisch-komplementärmedizinischen Rucksack mit ihren Erfahrungen und ihrem Wissen aus Italien, Österreich und der Schweiz geschnürt. Ihr naturverbundener und achtsamer Weg führte sie vor sechs Jahren nach Scuol, wo sie ihre klare Haltung auf einer anthroposophisch orientierten Akut- und Rehabilitationsabteilung auch im interprofessionellen Dialog einzubringen weiss.
Frau Seebacher, wer oder was hat Sie damals für die Pflegeausbildung motiviert?
Ingrid Seebacher: Als ich meinen Abschluss am naturwissenschaftlichen Lyzeum in Bozen 1981 in der Tasche hatte, erkrankte meine geliebte Grossmutter. Sie war über 80 Jahre alt, lebte bei uns in der Familie und wir pflegten sie gemeinsam. Mich hat ihr Tod sehr berührt und ich erkannte in der Pflege von Kranken eine wichtige Aufgabe, die ich in meinem Leben übernehmen wollte.
In den ersten Jahren haben Sie Ihre Aufgaben eher als «technisch» erlebt, nicht als Pflege im eigentlichen Sinne. Was zeichnet die Pflege denn für Sie aus?
Mir geht es ganz zentral darum, Menschen in ihrer Ganzheitlichkeit zu erkennen und individuell zu unterstützen.
Dazu muss man die Ressourcen der Patienten kennen. Wir alle haben Kraftorte in uns – das Ziel soll es sein, diese zu erreichen und zu nutzen und die Eigenverantwortung und das Vertrauen der Patientinnen und Patienten in sich selbst zu stärken. Dabei kann die Verbindung zur Natur einen grossen Beitrag leisten.
Und wie verhält es sich mit Ihrer eigenen Entwicklung? Sie fokussieren ja immer wieder neue Aspekte in Ihren Tätigkeiten?
Ja, das stimmt. Im Einklang mit meinem Privatleben möchte ich mich auch beruflich weiterentwickeln, um authentisch zu bleiben. Manchmal braucht es dabei richtig Mut, um neue Schritte zu wagen. Ich denke, dass das enorm wichtig ist, denn ich kann nur weitergeben, wovon ich auch selbst Kenntnis und Verständnis habe, also arbeite ich daran, meinen Horizont immer wieder entsprechend zu erweitern. Nehme ich komplementäre Anwendungen, wie beispielsweise Wickel, an einem Patienten vor, dann macht es einen spürbaren Unterschied, wenn ich die Erfahrung selber schon erlebt habe.
Mir geht es ganz zentral darum, Menschen in ihrer Ganzheitlichkeit zu erkennen und individuell zu unterstützen.
Insofern bin ich bemüht, persönliche Lebensthemen wie Achtsamkeit und Naturverbundenheit in meine Arbeit einzubringen und mich darin weiterzubilden. Aber auch der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen und die interprofessionelle Zusammenarbeit im Team tragen viel zu meiner eigenen Entwicklung bei und nützen gleichzeitig den Patientinnen und Patienten.
Was ist Anthroposophische Pflege?
Der Verein für eine Anthroposophische Pflege in der Schweiz APIS-SAES schreibt auf seiner Webseite: «Wir streben eine ganzheitliche Pflege nach dem Menschenbild der Anthroposophie an. Dieses Pflegeverständnis beruht auf der Achtung vor dem Leben und dem Mitmenschen sowie der unbedingten Bereitschaft, sich engagiert auf den kranken Menschen und seine Bedürfnisse einzulassen. Dies unvoreingenommen tun zu können, setzt Offenheit und Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Religionen und weltanschaulichen oder politischen Haltungen voraus. Jeder Mensch ist als Individuum einzigartig. Er hat einen freien Willen und lebt seine individuelle Biographie, die wir in die Pflege im grossen Spannungsbogen zwischen dem Geborenwerden auf dieser Welt (Geburt) und dem Geborenwerden in der geistigen Welt (Tod) miteinbeziehen.»
Sind Ihnen beim Wechsel ins Schweizer Spital wesentliche Unterschiede zu Ihrer früheren Arbeitsweise in Italien aufgefallen?
Das kann ich eigentlich nicht sagen, da ich hier in einer ganz anderen Konstellation arbeite – sozusagen unter Idealbedingungen. Die anthroposophische Herangehensweise an meinem Arbeitsplatz ermöglicht es mir, die Patientensituation umfassend und mit weniger Zeitdruck wahrzunehmen. Ich kann mich am Gesundungsprozess vom Eintrittsgespräch an beteiligen und durch Evaluationen neue Schritte initiieren.
Die anthroposophische Herangehensweise an meinem Arbeitsplatz ermöglicht es mir, die Patientensituation umfassend und mit weniger Zeitdruck wahrzunehmen.
Das wäre in einem allgemeinen italienischen Spital sicher weniger möglich, da die Hierarchien deutlich ausgeprägter sind. Dankbar bin ich hier auch über die gute Organisation und die Förderung von Weiterbildungen. Pflegende, die beispielsweise die Verantwortung und Leitung der wöchentlichen Patientenschulungen übernehmen, erfahren viel Wertschätzung.
Gibt es denn auch Aspekte am Pflegeberuf, die Ihnen sauer aufstossen, mit denen Sie nicht einverstanden sind?
Ich bin es gewöhnt, mich auf die positiven Aspekte zu konzentrieren. Meine Erfahrungen im Yoga und aus der Kindererziehung helfen mir dabei. Mühe habe ich, wenn ich eine rein ausführende Rolle übernehmen soll oder wenn an bestimmten Orten nur die Schulmedizin als richtig angesehen wird, obwohl sich doch viele Formen der Naturheilkunde sehr bewährt haben. Aber natürlich gäbe es da einiges zu sagen. Den Pflegeberuf attraktiver für junge Menschen zu machen, ist für mich ein zentraler Punkt, denn Personalmangel und ständige Überlastung führen zu Frustration. Ich würde es auch begrüssen, wenn es jungen Müttern leichter gemacht würde, sich für eine erweiterte Familienzeit zu entscheiden
– entsprechende Modelle gibt es bereits in den Nachbarländern.
Zuletzt bitte ich Sie noch, uns an Ihrem inneren Bild teilhaben zu lassen, das Sie mit Ihrem Berufsweg in der Pflege verbinden. Wie sieht Ihr ganz persönlicher Weg aus?
Mein Bild beschreibt eher mein Wirken statt einer Landschaft. Als Pflegefachfrau nehme ich immer wieder Samen auf, die ich an andere, möglichst fruchtbare Orte weitertrage.
Als Pflegende nehme ich immer wieder Samen auf, die ich an andere, möglichst fruchtbare Orte weitertrage.
So sorge ich dafür, dass etwas wachsen und sich vermehren kann – es ist wie ein Schatz, den ich hüte und pflege. Das Schönste ist zu beobachten, wie die Saat aufgeht. Ich gewinne neue Erkenntnisse aus den Höhen und Tiefen des Lebens, so kann ich einen richtigen Erfahrungsschatz sammeln. Das Gute daran ist: Es geht einfach immer weiter!
Ingrid Seebacher wurde 1964 in Bozen geboren, wo sie Anfang der 1980er-Jahre ihr dreijähriges Studium zur Pflegefachfrau nach italienischen Vorgaben absolvierte. Anschliessend wurde sie direkt auf der internistischen Notfall- und Beobachtungsstation angestellt und verbrachte dort die ersten vier Berufsjahre. In einer zweijährigen Weiterbildung qualifizierte sie sich für die Präventions- und Beratungstätigkeit im Gemeinwesen und arbeitete zusammen mit Hebammen, Pflegefachfrauen KWS und Medizinerinnen in einem Zentrum zur Regelversorgung der Kinder- und
Jugendgesundheit. Seebacher absolvierte eine zweijährigen Weiterbildung in Komplementärmedizinischer Pflege in Innsbruck. Seit 2014 arbeitet sie in der Clinica Curativa in Scuol und belegt aktuell einen Kurs zur Expertin in Anthroposophischer Pflege.
Das Interview erschien in der Zeitschrift „Krankenpflege“, dem offizielle Verbandsorgan vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK – ASI und wurde Millefolia zur Verfügung gestellt.
Bilder: Pixabay, zvg
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