Startseite Bericht Auch die Medizin muss nachhaltig werden

Auch die Medizin muss nachhaltig werden

von Olaf Müller
Publikum in grossem Veranstaltungssaal in Baden

Der Klimawandel als existenzbedrohende Krise ist nahezu allgegenwärtig, in den Medien, auf Podien, in der Politik. Sich den umwälzenden Entwicklungen zu stellen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – Verantwortung können alle Akteure übernehmen. Dass es auch für die Medizin höchste Zeit dafür ist, befand die Schweizerische Medizinische Gesellschaft für Phytotherapie SMGP und widmete ihre 37. Jahrestagung dem Thema Nachhaltigkeit.

von Lukas Fuhrer

Phytotherapie ist die Mutter der Medizin

Die Phytotherapie (vom griechischen phyton, «Pflanze») ist eine der vier ärztlichen Methoden der Komplementärmedizin, die von der Grundversicherung erstattet werden. «Sie ist die Mutter der Medizin», sagt Dr. med. Roger Eltbogen, Präsident der SMGP. «Das erste Medikament, das künstlich erzeugt wurde, war Aspirin – nach dem Vorbild der Natur, wo sein Wirkstoff in der Weidenrinde vorkommt.» Wie die Medizin und insbesondere die Phytotherapie auf ein verändertes Klima reagieren und welchen Beitrag sie zum Klima- und Umweltschutz leisten können, diesen Themen widmeten Expertinnen und Experten der verschiedensten Disziplinen ihre Referate an der 37. Jahrestagung für Phytotherapie. Verantwortlich für das wissenschaftliche Programm waren Dr. med. Barbara Zürcher (Präsidentin der Section Romandie der SMGP) und Dr. sc. nat. Beatrix Falch (Vizepräsidentin SMGP).

Chemie und Pharma brauchen kleineren Toxizitätsabdruck

Drei Teilnehmer der Podiumsdiskussion auf der Bühne vor Projektion

Engagierte Podiumsdiskussion nach dem Referat von Prof. Martin Scheringer von der ETH Zürich.

Jede fünfte Tier- und Pflanzenart in Europa ist gefährdet – dieses düstere Bild zeichnete der Chemiker Prof. Dr. sc. nat. Martin Scheringer der ETH Zürich. Er forscht zur Verbreitung von Chemikalien in der Umwelt und fordert eine eigentliche Chemikalienwende: Die chemische Industrie und die Pharmaindustrie brauchen nicht nur einen kleineren CO₂-Fussabdruck, sondern auch einen kleineren Toxizitätsabdruck.

Die chemische Industrie und die Pharmaindustrie brauchen nicht nur einen kleineren CO₂-Fussabdruck, sondern auch einen kleineren Toxizitätsabdruck.

Das heisst: Weltweit drastisch weniger Chemikalien einsetzen, zudem weniger komplexe Verbundmaterialien, da diese kaum recyclierbar sind. Die Umweltverschmutzung durch toxische Verbindungen nehme unverändert zu – Spitzenreiter sind Pestizide und toxische Metalle wie Quecksilber und Arsen, bei den Human- und Veterinärpharmaka sind es Antibiotika, Psychopharmaka und Schmerzmittel. Gelangen diese Verbindungen in die Natur, können sie kaum abgebaut werden und reichern sich in Mensch, Tier und Pflanze an. Phytoarzneimittel können helfen, die Freisetzung synthetisch-chemischer Arzneimittel zu vermindern, beispielsweise als Ersatz für Antibiotika, schliesst Scheringer den Bogen zum Tagungsthema.

37. Jahrestagung Phytotherapie: «Phytotherapie für Mensch, Tier und Umwelt – zeitlos und nachhaltig»

Auf einem Podium stehende lachende Kursteilnehmer, die ein Zertifikat empfangenDie alljährliche Tagung ist der wichtigste Anlass im Kalender der Schweizerischen Medizinischen Gesellschaft für Phytotherapie SMGP. Am 16. November 2023 fanden sich über 300 Ärztinnen, Apotheker, Veterinärmedizinerinnen und andere Interessierte in Baden zum Symposium ein.

Die SMGP fördert eine breite Anerkennung der Phytotherapie als einen allgemein anerkannten Bestandteil der modernen Medizin durch alle Institutionen des schweizerischen Gesundheitswesens, inklusive der Hochschulen. Am Anlass wurden zahlreichen Mitgliedern der SMGP Fähigkeitsausweise und/oder Zertifikate für absolvierte Ausbildungen der Phytotherapie verliehen.

Phytoarzneimittel statt Antibiotika: In vielen Fällen möglich

Die Antibiotika tauchten an der Tagung gleich in mehreren Referaten auf, aus einem einfachen Grund: Studien belegen, dass viele Antibiotikagaben unnötig sind – als Alternative bieten sich Phytoarzneimittel hingegen geradezu an, wie Prof. Dr. med. Philip Tarr aufzeigte. Tarr setzt sich für eine patientenzentrierte Medizin ein und engagiert sich in der Fortbildung für Hausärztinnen und Hausärzte. Und diese sind für 80 Prozent der Antibiotika-Anwendungen verantwortlich, wovon rund die Hälfte als nicht indiziert gelten.

Das heisst: In den Arztpraxen werden oft zu schnell und zu lange Antibiotika verschrieben, mit der bekannten Folge, dass sich immer mehr resistente Keime bilden, gegen die die Antibiotika nicht mehr wirken. Als Alternative bieten sich gemäss Tarr zwei Schlüsselkonzepte an, die in der Komplementärmedizin tief verankert sind: die Stärkung des Immunsystems und eine wirksame Symptomlinderung.

Als Alternative zu Antibiotika bieten sich zwei Schlüsselkonzepte an, die in der Komplementärmedizin tief verankert sind: Die Stärkung des Immunsystems und eine wirksame Symptomlinderung.

Am meisten unnötige Antibiotika werden bei Atemwegsinfektionen und bei Blasenentzündungen verschrieben. Rund 95 Prozent der Atemwegsinfekte sind gemäss Tarr viral bedingt und somit harmlos, hinter dem Husten oder den Halsschmerzen lauert keine Lungenentzündung. Ähnlich bei der Blasenentzündung, hier greifen Ärztinnen und Ärzte oft zum Antibiotikum, weil sie eine allfällige Nierenbeckenentzündung nicht verpassen wollen. Unkomplizierte Harnwegsinfekte lassen sich aber mit Schmerzmitteln, pflanzlichen Arzneimitteln und viel Trinken gut therapieren – die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) hat die antibiotikafreie Behandlung unkomplizierter Harnwegsinfekte inzwischen in ihre Guidelines aufgenommen.

Eine besondere Rolle beim Ersatz von Antibiotika spielen ätherische Öle – deren Potenzial war ein weiteres Fachreferat gewidmet, und in einem dritten wurde dem Fachpublikum eine Auswahl antimikrobieller und immunmodulierender Arzneidrogen vorgestellt wie Sonnenhutkraut und -wurzel, Geranien- oder Meerrettichwurzel.

Biene sitzt auf Blume mit rot-pinkfarbenen BlütenblätternDie Pflanzenwelt verändert sich – verändern wir uns mit?

Pflanzliche Arzneimittel könnte man per se als nachhaltig bezeichnen, da sie aus Naturstoffen hergestellt werden – dass aber eine Arzneipflanze klimaneutral vom Feld zur Patientin oder zum Patienten gelangt, da ist noch einiges zu tun, sagt Dr. Herbert Schwabl, Präsident des Schweizerischen Verbands Komplementärmedizinischer Heilmittel SVKH: «Da haben wir bestimmt noch Hausaufgaben zu erledigen.» So gelte es beispielsweise, die Verwendung organischer Lösungsmittel für die Extraktion der Arzneipflanzen auf ihren CO₂-Abdruck zu überprüfen, oder auch die ganze Logistik.

Die seit langem geschätzte Heilpflanze Hanf in einem alten Buch

Das Klima könnte heimische Arzneipflanzen gefährden – Cannabis Sativa gilt bisher als ziemlich robust.

Auch wenn die Produktion von Phytoarzneimitteln die Umwelt in Zukunft weniger belastet: Das wärmere Klima bringt Veränderungen in der Pflanzenwelt mit sich, auf die sich die Branche einstellen müsse. Neue Arten könnten alteingesessene verdrängen, oder es sei auch nicht ausgeschlossen, dass sich Arzneipflanzen in ihren Eigenschaften verändern. «Bei unseren standardisierten Prozessen ist das nicht unproblematisch, wir produzieren ja nach genauen Vorschriften – was aber tun wir, wenn wir plötzlich mit einem Ausgangsmaterial arbeiten müssen, für das die Vorschrift gar nicht gemacht wurde?», so Schwabl. Hier sei insbesondere die Arzneibuchkommission gefordert, die die offizielle Pharmakopöe (amtliches Arzneibuch der Swissmedic) herausgibt. Auch die Inspektorate müssten beginnen, neu zu denken: was tun, wenn sich Pflanzen und Umweltbedingung rasch ändern? Insgesamt müssen die Vorschriften flexibler ausgelegt werden, sagt der SVKH-Präsident. Generell sei die Bürokratie im Arzneimittelwesen überbordend, so habe sich die Anzahl der Vorschriften und Gesetzestexte innert weniger Jahre verdoppelt.

Die Anpassung an die Entwicklungen fordern das medizinische Fachpersonal, die Hersteller und Anbieter von Phytopharmaka, Arzneimittel- und Gesundheitsbehörden, die Forschung und auch die Bevölkerung, sagt Herbert Schwabl in seinem Schlusswort. «Die Medizin und die Phytotherapie fit für die Zukunft zu machen, ist ein laufender Prozess – von allen Beteiligten sind Kreativität und Flexibilität gefragt.»

Drei Fragen an Dr. med. Roger Eltbogen

Älterer im grauen Anzug mit Brille, roter Fliege und weissem Haar lächelt in die KameraRoger Eltbogen ist seit 2005 Präsident der Schweizerischen Medizinischen Gesellschaft für Phytotherapie SMGP. Als Facharzt FMH für Gynäkologie und Geburtshilfe betreibt er eine Praxis in Solothurn.

Roger Eltbogen, das Thema der 37. Jahrestagung Phytotherapie lautet «Phytotherapie für Mensch, Tier und Umwelt – zeitlos und nachhaltig»: Was kann sie denn für die Umwelt tun?

Roger Eltbogen: Wir haben gegenüber der allopathischen Medizin (= Schulmedizin) den Vorteil, dass wir naturnah produzieren können, mit der Natur, ohne sie gross zu belasten. Und wir können mit unserer Medizin die Umwelt schonen: Hormone oder Antibiotika werden nach der Behandlung wieder ausgeschieden und belasten die Natur, Phytoarzneimittel nicht.

Welchen Stellenwert hat die Phytotherapie Ihrer Wahrnehmung nach innerhalb der Komplementärmedizin?

Die Phytotherapie ist natürlich die traditionellste Methode, am Anfang der Medizin stand die Heilpflanzenkunde. Heute werden wir auch als Bindeglied zwischen der Schul- und der Komplementärmedizin betrachtet, da wir mit unseren Pflanzenpräparaten hundert Prozent äquivalent zur Schulmedizin den wissenschaftlichen Nachweis für die Wirksamkeit erbringen können – auch chemisch können wir die Leitsubstanzen nachweisen. Die Ärztinnen und Ärzte in der SMGP sind ja alle schulmedizinisch ausgebildet und wenden die Phytotherapie gemeinsam mit der allopathischen Medizin an – wir setzen beides integrativ ein, in Kombination.

Die Phytotherapie wird ärztlich ausgeübt und als eine von vier Methoden von der Grundversicherung vergütet. Ist das schon bei der breiten Bevölkerung angekommen?

Aus meiner eigenen Praxis kann ich sagen, dass die Patientinnen genau deshalb zu mir kommen. Vor allem wird geschätzt, dass wir eben Schul- und Komplementärmedizin kombinieren. Mit der SMGP wollen wir aber natürlich die Ausbildung weiter fördern und es Ärztinnen und Ärzten ermöglichen, sich ebenfalls so zu positionieren.

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Bilder: Jonas Fuhrer (4) – Millefolia.ch / Nicolas Beuret – Unsplash.com / Thomé  – BioLib Online Library of Biological Books

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