Bekannt ist, dass Cannabis schmerzlindernd und krampflösend wirkt. Das schaffen viele Medikamente aus der Schulmedizin auch. Wozu braucht es dann noch Medizinal Cannabis?
Matthias Heiliger: Die Wirksamkeit zwischen Cannabis und anderen Schmerzmitteln ist vielleicht vergleichbar. Ich behandle schwerkranke Menschen, da muss ich in der vorgeschlagenen Therapie meistens Medikamente miteinander kombinieren – und durch diese Kombination immer mit Nebenwirkungen rechnen. Es gilt ein Gesetz in der Schulmedizin: Versuch und Irrtum. Ab drei bis vier Medikamenten liege ich bei fast 90 Prozent von interagierenden Nebeneffekten.
Medizinal Cannabis mit seinem multifunktionalem Potential hat erste Priorität.
Medizinal Cannabis reagiert nicht auf andere Medikamente und es hat keine Nebenwirkungen; auch macht das Medikament den Patienten nicht high. Deshalb hat für mich das Mittel mit seinem multifunktionalen Potential erste Priorität.
Für wen ist Medizinal Cannabis besonders gut geeignet?
Für alle Schmerzpatienten, Medizinal Cannabis eignet sich gegen jede Form von Schmerz. Es gibt statistische Daten aus Israel, wo das Mittel sehr erfolgreich bei Brustkrebs-Patientinnen eingesetzt wird. Mit zwei Effekten: Einen schmerzlindernden Effekt und einer positiven Beeinflussung von bösartigen Tumorzellen.
Auch ich setze Medizinal Cannabis bereits in der Krebstherapie ein. Über die grossen Erfolge kann ich noch nicht berichten, denn ich habe noch nicht genügend Fallzahlen.
Angenommen, bei einem Patienten von Ihnen ist die Einnahme von Medizinal Cannabis angezeigt. Wie gehen Sie vor?
Als ersten Schritt verschreibe ich dem Patienten kein Rezept, sondern ich schicke ihn zu einer Hanftheke. Der Patient soll sich dort mit Produkten eindecken und schauen, wie er mit diesen klar kommt. Ich rede von Tees oder einem Spray, von Kügelchen oder Tröpfchen; grossartig produzierte, saubere, legale Produkte.
Bei ganzheitlichen Medikamenten funktioniert keine Einnahme nach Schema F.
Ich bin ein Gegner von konventionellen Einnahme-Empfehlungen. Gerade bei ganzheitlichen Medikamenten funktioniert die Einnahme nach Giesskannenprinzip oder Schema F nicht. Ich habe gelernt, immer individuelle Einnahmeempfehlungen abzugeben. Beispielsweise fange ich bei der Behandlung mit 2 bis 3 Tropfen – verdünnt mit Wasser – an. Damit kommt man oft schon ziemlich weit; die Kosten liegen zwischen 120 bis 150 Schweizer Franken pro Fläschchen.
Wenn alle Stricke reissen, schreibe ich ein Rezept beziehungsweise ich stelle den Antrag zur Ausnahmebewilligung. Doch das habe ich bis heute nicht getan. Das heutige Bewilligungsverfahren dauert zu lange und ist zu mühsam.
Kann man Medizinal Cannabis tödlich überdosieren?
Man kann wahrscheinlich alles tödlich überdosieren. Es ist immer eine Frage der Menge. Der Stoffwechsel des Menschen funktioniert immer gleich; da müssen Dinge rein, da müssen Dinge raus. Flüssigkeit, Nährstoffe, Information und Elektrizität. Zuviel kann tödlich sein. Zuwenig kann tödlich sein. Aber ich habe bis heute keine Information, über Todesfälle durch die Einnahme von Cannabis.
Macht Medizinal Cannabis süchtig, beziehungsweise gewöhnt sich der Körper mit der Zeit an das Mittel und braucht immer mehr?
Bei allen Therapien mit Medizinprodukten, auch mit natürlichen Produkten wie Cannabis, sollte man Pausen machen. Ich denke schon, dass es immer Gewöhnungseffekte und einen Steigerungsbedarf gibt. Das ist bei Heroin so, dass ist bei anderen Drogen so, dass wird auch bei Cannabis so sein. Aber mit Pausen kann Cannabis unbedenklich über Jahre eigenommen werden.
Patienten dürfen niemals durstig sein oder Schmerzen haben.
Ausser in der palliativen Situation; da sind Pausen nicht angebracht. Da ist mir als Arzt der Gewöhnungseffekt völlig gleichgültig. Denn mein Chef hat mich einst als junger Assistenzarzt eines gelernt: Patienten dürfen niemals durstig sein und niemals Schmerzen haben. Dieser Rat beherzige ich bis heute.
Cannabis hat in der breiten Bevölkerung ein Imageproblem…
Und trotzdem hat die Zürcher Limmat die weltweit grösste Konzentration an Cannabis im Wasser. Wenn Medizinal Cannabis in der Schweiz wieder als Heilmittel zugelassen wird, wird die Beschaffungskriminalität in den Arztpraxen sicher nicht kleiner. Darüber muss man diskutieren.
Es ist untragbar, dass sich schwerstkranke Menschen strafbar machen müssen, um ihre Schmerzen lindern zu können.
Es gilt aber für mich ein Abwägen der Risiken und der Bedürftigkeit. Es geht hier vor allem um schwerstkranke Schmerzpatienten. Es ist untragbar, dass diese sich zurzeit strafbar machen müssen, um ihre Schmerzen lindern zu können.
Vorteile gegenüber Cannabis gibt es genügend: Cannabis mache dumm, es ist eine Einstiegsdroge…
Die Redaktionen auf Cannabis sind sehr unterschiedlich. Es gibt Leute, die kriegen richtige Lachanfälle. Und ich kenne auch Leute, die werden von Cannabis depressiv. Eines macht Cannabis aber sicher: es macht das Zwerchfell – den Solarplexus, das Sonnengeflecht – auf. Ganzheitlich betrachtet, sitzen im Solarplexus die Emotionen. Öffne ich also diesen Bereich, wird es emotional. Diese Emotionen wiederum sind sehr individuell, sie können negativ oder positiv sein. Der Vorwurf, dass Cannabis eine Einstiegsdroge ist, halte ich für berechtigt. Ich glaube viele Konsumenten finden durch Cannabis den Weg in harte Drogen.
Warum?
Das hat etwas mit der Charakterstruktur eines jeden Menschen zu tun. Ich kenne Leute, die rauchen nur Zigarillos. Die haben in ihrem Leben noch nie eine Zigarette angefasst. Und es gibt Leute, die rauchen nur Marihuana. Die würden niemals Ecstasy einwerfen oder an die Nadel gehen. Da spielen viele, viele Faktoren mit. Es hat mit unserer individuellen Vergangenheit zu tun, wir sind alle ein Stück weit auch das Produkt unserer Erziehung. Cannabis öffnet alte Blockaden-Strukturen, und da kommt bei jedem etwas anderes zum Vorschein.
Die Schulmedizin in der Schmerztherapie ist nicht mehr mein Weg.
Ihr persönliches Engagement für Medizinal Cannabis – vorher kommt das?
Ich habe vier Herzoperationen hinter mich gebracht. Der Schmerz ist schlussendlich der einzige Lehrmeister. Ich habe die Operationen überlebt, überlegt, begriffen – einen Paradigmenwechsel vollzogen. Die alte Strategie der Schmerztherapie in der Schulmedizin ist nicht mehr mein Weg.
Prof. Dr. med. Matthias Heiliger:
Geboren 1952 in Aachen. Arzt unter anderem für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Balneologie, Endokrinologie, Laser- und Regulationsmedizin mit privatärztlicher Praxis «MHM Consultants GmbH» in Kreuzlingen und Zürich. Vorstandsmitglied Komed.
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