Mehr als 15 Jahre nach dem Volksentscheid «Ja zur Komplementärmedizin» zog der Verein integrative-kliniken.ch an einem Netzwerkanlass in Zürich Bilanz und wagte einen Ausblick in die Zukunft. Die Referentinnen und Referenten zeigten die Entwicklungen und Herausforderungen der Komplementär- und Integrativmedizin in der Schweiz auf – und zeichneten ein vielfältiges Bild einer patientenzentrierten, ganzheitlichen Medizin.
von Fabrice Müller / Redaktion
Mit Zuversicht in die Zukunft
Die Komplementärmedizin ist heute ein fester Bestandteil des Schweizer Gesundheitssystems. Seit dem Volksentscheid «Ja zur Komplementärmedizin» im Jahr 2009 hat der integrative Ansatz, also die Kombination von schul- und komplementärmedizinischen Methoden, Einzug in die Medizin gehalten. Der Verein integrative-kliniken.ch, der die Verbreitung und Zugänglichkeit der integrativen, stationären Medizin in der Schweiz fördert und heute zehn integrative Spitäler, Kliniken und Institute umfasst, warf an einem Netzwerkanlass am 20. Juni 2025 in Zürich einen Blick auf die nächsten 15 Jahre.

Organisatoren und Referentinnen des Netzwerkanlasses «15 Jahre Ja zur Komplementärmedizin».
Lukas Schöb, Veranstalter des Netzwerkanlasses von integrative-kliniken.ch (Bildmitte) umgeben von den Referierenden (v.l.): Andrea Bürki, Walter Stüdeli, Sara Kohler, Maik Hauschild, Stefan Borer, Susanne Ulbrich Zürni (Mitorganisatorin, integrative-kliniken.ch), Isabelle Bietenholz (Vorstand integrative-kliniken.ch) und Gisela Etter. Nicht im Bild Referentin und FMH-Präsidentin Yvonne Gilli.
Die Prognosen der Referentinnen und Referenten waren zuversichtlich. Dr. med. Lukas Schöb, Präsident von integrative-kliniken.ch, wünschte sich in seiner Eröffnungsrede, dass in weiteren 15 Jahren gar nicht mehr zwischen komplementärer und herkömmlicher Medizin unterschieden wird: «Meine provokante These ist: 2040 gibt es keine Komplementärmedizin mehr, es gibt nur noch eine, gute Medizin.»
Ziele gemeinsam erreichen

Yvonne Gilli
«Am Anfang allen Lebens steht die Pflanze», begann Dr. med. Yvonne Gilli, Präsidentin des Berufsverbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH, ihr Referat. Die Kraft der Bäume und Pflanzen werde seit Menschengedenken für die Gesundheit genutzt. Trotzdem laufe die Komplementärmedizin heute Gefahr, vor allem politisch zu wenig respektiert und übergangen zu werden. «Als Präsidentin der FMH bin ich der tiefen Überzeugung, dass wir nur zusammen – also mit der Schul- und Komplementärmedizin – Ziele erreichen können.» Umso mehr freue es sie, dass national wie auch global vieles zugunsten der integrativen Medizin in Bewegung sei.
Die integrative Medizin ist tief verwurzelt. Etwas, das über Jahrtausende und über alle Kulturen genutzt wurde, um zu heilen oder um kranke Menschen zu begleiten, das wird auch in Zukunft tragen. Dr. med. Yvonne Gilli, Präsidentin FMH und Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin
«Ganzheitliche Gesundheitsversorgung wird zum Standard»
Aus seinen Erfahrungen als Chefarzt des Brustzentrums Rheinfelden, einer Abteilung des Gesundheitszentrums Fricktal, berichtete Dr. med. Maik Hauschild. Das Brustzentrum Rheinfelden integrierte 2013 als erste Klinik in der Schweiz die Komplementärmedizin in ihr Behandlungsangebot. In einer internen Umfrage wünschen sich laut Maik Hauschild 80 Prozent der Patientinnen der Brustklinik Rheinfelden Komplementärmedizin in der Therapie. Maik Hauschild rechnet damit, dass eine ganzheitliche Gesundheitsversorgung mit Fokus auf Prävention bis 2040 zum Standard werde.
Komplementärmedizin in der medizinischen Ausbildung
Die gezielte Integration der Komplementärmedizin in die medizinischen Ausbildungen sei ein wichtiger Schritt für die Akzeptanz der integrativen Medizin in der Schulmedizin, betonte Dr. med. Gisela Etter, Präsidentin der Union Schweizerischer Komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen. Als positives Beispiel nannte Gisela Etter die Universität Basel, wo die integrale Medizin als Wahlpflichtfach angeboten wird.
Die Integrative Medizin hält im Spital Einzug
Der Verein integrative-kliniken.ch setzt sich für den Auf- und Ausbau der Integrativen Medizin in Spitälern der Schweiz ein. Dabei soll der Bevölkerung ein niederschwelliger Zugang zu einer qualitätsgesicherten, integrativen, stationären Versorgung ermöglicht werden. Der Verein verleiht seit 2023 das Label «Integrative Kliniken» und umfasst heute bereits zehn Spitäler, Kliniken und Gesundheitszentren.
Im Frühjahr 2024 wurde der Verein Swiss Network for Integrative Oncology gegründet, der integrative Medizin in onkologischen Spitälern, Kliniken, Zentren, Instituten und Praxen fördert und aktuell 29 Mitglieder-Institutionen zählt.
Integrative Pflege stiftet Sinn

Sara Kohler
In der Pflege ist der Weg einer Integration der Komplementärmedizin beschritten, aber noch weit, wie Sara Kohler, Leiterin CAS integrative und komplementäre Behandlungsansätze und Dozentin an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW, schilderte. Die Referentin zeigte sich überzeugt, dass sich die Pflegeberufe dadurch aufwerten lassen. «Die integrative Pflege ist personenzentriert und beziehungsorientiert. Sie steht für Sinnhaftigkeit, Eigenständigkeit und Selbstfürsorge. Diese Werte werden in den heutigen Pflegeberufen häufig vermisst, was mit ein Grund für den Fachkräftemangel ist.»
Ich wünsche mir, dass die Patientin, der Patient im Zentrum steht und wir auf seine Bedürfnisse schauen – und dass die Entscheidungen, wie sich die Medizin weiterentwickelt, nicht kostengetrieben sind.» Sara Kohler, Leiterin MAS in onkologischer Pflege und Dozentin ZHAW Winterthur
66 Prozent der Bevölkerung nutzen Komplementärmedizin

Andrea Bürki
Auf Seiten der Bevölkerung sei die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Leistungen gross, betonte Andrea Bürki, Präsidentin der Organisation der Arbeitswelt KomplementärTherapie OdA KT. Laut dem Erfahrungsmedizinischen Register EMR nehmen mittlerweile 66 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer die Leistungen der Komplementärmedizin in Anspruch, 87 Prozent von ihnen geben an, dass die Therapie zu Verbesserungen führte. Für noch mehr Daten zur Wirksamkeit der Methoden lanciert die OdA KT das Projekt PROMS (Patient Reported Outcome Measures), in dem Behandlungsergebnisse aus Sicht der Klientel systematisch erfasst werden.
Für unsere Methoden und Fachrichtungen ist das grosse Ziel, dass sie ein fester Bestandteil des Gesundheitswesens werden. Uns soll und kann man mitdenken in den Gesundheitsstrategien – wir sind bereit.» Andrea Bürki, Präsidentin Organisation der Arbeitswelt KomplementärTherapie OdA KT
Digitalisierung kann die interdisziplinäre Zusammenarbeit stärken
Dass sich die Komplementärmedizin definitiv in der Schweiz etabliert hat, bestätigte Stefan Borer, Leiter Business Development der EGK-Gesundheitskasse, und verwies auf die kontinuierlich gestiegene Zahl der eingereichten Rechnungen und absolvierten Berufsprüfungen. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens im Rahmen des Projekts DigiSanté des Bundes biete die Chance, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Schul- und Komplementärmedizin weiter zu stärken.
Der Nutzen der Komplementärmedizin werde in der Politik allerdings noch zu wenig erkannt, bedauerte Walter Stüdeli, Leiter Politik der Geschäftsstelle des Dachverbands für Komplementärmedizin Dakomed. «Wir kämpfen enorm, um den immer noch ungenügenden Status Quo zugunsten der Komplementärmedizin zu halten.» So tue das Parlament aktuell zu wenig für die Umsetzung des Bundesverfassungsartikels 118a zugunsten der Komplementärmedizin. Der Dakomed (Herausgeber von Millefolia.ch) engagiert sich unter anderem für die Integration der Komplementärmedizin in die nationale Gesundheitsstrategie des Bundes.
Erfahren Sie mehr über ganzheitliche Therapien und integrative Medizin in diesen Millefolia-Artikeln:
- Integrative Medizin – das Beste aus zwei Welten
- Ganzheitliche Therapien sind vielen ein Bedürfnis, weil sie als Mensch wahrgenommen werden wollen
Bilder: Ivan Samkov – Pexels.com / zVg – Miriam Kolmann/ zVg – Susanne Keller
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