Mit einer knappen Mehrheit verlangt der Nationalrat, dass die Komplementärmedizin aus dem Leistungskatalog der Grundversicherung gekippt und eine Wahlmöglichkeit geschaffen wird. Der Dakomed spricht sich klar dagegen aus, weil dies das Solidaritätsprinzip der Grundversicherung verletzt.
von Lukas Fuhrer
Angriff auf die Komplementärmedizin
Der Nationalrat ist am 11. September knapp einer Motion von Philippe Nantermod (FDP/VS) gefolgt, die fordert, dass jede versicherte Person wählen kann, ob sie von der Krankenkasse ärztliche komplementärmedizinische Leistungen vergütet haben will oder nicht. Die grosse Kammer hat sich vom Motionär täuschen lassen, der schon vermehrt Vorstösse gegen die Komplementärmedizin lanciert hat. So behauptet Nantermod, dass die Wirksamkeit der Anthroposophischen Medizin, klassischen Homöopathie, Phytotherapie und Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) inklusive Akupunktur wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden könne.
Diese absolute Aussage ist falsch: Grundsätzlich gibt es wenig Forschung zu ganzen Systemen wie Komplementärmedizin oder Hausarztmedizin. Für zahlreiche Krankheitsbilder gibt es aber gute wissenschaftliche Nachweise. «Was es bräuchte, sind gesetzliche Vorgaben, wie die Wirksamkeit praxisgerecht nachzuweisen ist, und zwar für sämtliche Therapien und Methoden, die über die Grundversicherung vergütet werden», sagt Martin Bangerter, geschäftsführender Co-Präsident des Dachverbands Komplementärmedizin Dakomed.
Eine Wahlmöglichkeit ist gar nicht umsetzbar
Seit zwölf Jahren werden Kosten der aufgeführten ärztlichen komplementärmedizinischen Leistungen durch die Grundversicherung übernommen. Das Stimmvolk hat 2009 in einer Volksabstimmung mit 67 Prozent Ja dazu gesagt. Der Bundesrat beantragt dem Parlament die Motion Nantermod zur Ablehnung, da eine Wahlmöglichkeit für bestimmte Leistungen in der Grundversicherung dem Prinzip des Versicherungsobligatoriums widerspricht. «Wahlleistungen wären nicht mehr obligatorisch und nicht mehr solidarisch durch alle getragen», schreibt der Bundesrat in seiner Stellungnahme.
Wahlleistungen wären nicht mehr obligatorisch und nicht mehr solidarisch durch alle getragen.» Der Bundesrat in seiner Stellungnahme
Tatsächlich würden Wahlmöglichkeiten in der Grundversicherung gegen das Solidaritätsprinzip des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) verstossen. Dass die Versicherungsnehmer solidarisch für alle Leistungen der Grundversicherung einzahlen, auch wenn sie sie nicht selbst beziehen, gewährleistet die medizinische Gleichbehandlung:
«Nicht alle Menschen können sich eine Zusatzversicherung leisten, und kranke und alte Menschen können gar keine Zusatzversicherung mehr abschliessen», sagt Ständerätin und Dakomed-Co-Präsidentin Franziska Roth.
Nicht alle Menschen können sich eine Zusatzversicherung leisten, und kranke und alte Menschen können gar keine Zusatzversicherung mehr abschliessen». Franziska Roth, Ständerätin und Co-Präsidentin Dakomed
Viel Arbeit in Bundesbern
Der Dachverband Komplementärmedizin Dakomed setzt sich im Bundeshaus mit aktiver Lobbyarbeit für die Komplementärmedizin ein. Aktuelles Beispiel: Vor der Abstimmung über die Motion Nantermod zur Wahlmöglichkeit in der Grundversicherung hat der Dakomed den Parlamentarier/innen per Brief die Ablehnung der Motion empfohlen, sie mit Argumenten versorgt und bilaterale Gespräche geführt.
Mit seiner Co-Präsidentin Ständerätin Franziska Roth (SP, Solothurn) hat der Dachverband einen direkten Draht ins Bundeshaus. Roth sitzt dort auch der parlamentarischen Gruppe Komplementärmedizin vor. Diese setzt sich ein für die Zusammenarbeit von Schul- und Komplementärmedizin, die Förderung von Lehre und Forschung und für gute Rahmenbedingungen für die Produktion und Vergütung von komplementärmedizinischen Arzneimitteln in der Schweiz.
Die Komplementärmedizin ist zentral für den Behandlungserfolg
Bei vulnerablen Gruppen, beispielsweise bei Schwangeren oder bei Kindern, bei denen im konventionellen Bereich kaum Alternativen oder nur medikamentöse Behandlungen mit einem beträchtlich höheren Risikopotential zur Verfügung stehen, ist ärztliche Komplementärmedizin erste Wahl.
Die Motion Nantermod verfehlt das Ziel, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu senken.»
Auch bei Polymedikation kann der Einsatz von Komplementärmedizin angezeigt sein, um Interaktionen und Nebenwirkungen zu vermeiden. Die Therapievielfalt ist zentral für den Behandlungserfolg, da nicht alle Methoden bei allen Menschen gleich gut wirken. Die Motion Nantermod, die als Nächstes zur Abstimmung im Ständerat kommt, verfehlt das Ziel, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu senken: Rund 18 Millionen Franken kosten die komplementärmedizinischen Leistungen in der obligatorischen Krankenversicherung (OKP) jährlich, in der monatlichen Krankenkassenprämie jedes einzelnen Versicherten sind das rund 17 Rappen.
Integrative Medizin in Praxen und Spitälern
Die Komplementärmedizin hat sich zu einem nicht wegzudenkenden Pfeiler der medizinischen Versorgung in der Schweiz entwickelt. Ihre Methoden werden von Ärztinnen und Ärzten mit entsprechenden Zusatzausbildungen landesweit praktiziert, in Praxen und Kliniken – in Form einer integrativen Medizin, die die besten Behandlungen aus Schul- und Komplementärmedizin kombiniert. An mehreren Uni-Spitälern geht die Behandlung von Patienten Hand in Hand mit Forschungsprojekten: Basel, Bern, Lausanne und Zürich haben Komplementärmedizinische Institute aufgebaut. Und der Verfassungsartikel hat die Voraussetzungen für eidgenössische Diplome für Naturheilpraktikerinnen und Komplementärtherapeuten geschaffen: Heute praktizieren Tausende von zertifizierten Fachleuten in diesen Gesundheitsberufen, der Andrang zu den Ausbildungsgängen ist gross.
Auch international nimmt die Bedeutung der Komplementärmedizin zu. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 2023 erstmals einen Gipfel zu Traditioneller und Komplementärer Medizin durchgeführt und betont deren Bedeutung für das globale Gesundheitswesen. Und der Markt für Produkte und Leistungen der Alternativ- und Komplementärmedizin wächst rasant – in Europa von 33 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf prognostizierte 125 Milliarden im Jahr 2028. Angesichts dieser Entwicklungen ist es eminent wichtig, dass die Gegner der Komplementärmedizin im Ständerat keine Mehrheit finden.
Wir brauchen Ihre Unterstützung
Die Komplementärmedizin ist eine Erfolgsgeschichte – darüber dürfen wir uns gerne auch mal freuen, als Berufsleute, die die Methoden täglich anwenden, als Patientinnen, als Unterstützer. Aber der Widerstand ist relevant, das zeigt auch der jüngste Entscheid des Nationalrats, nach dem eine knappe Mehrheit die Komplementärmedizin aus der Grundversicherung streichen will. Dass der Bundesrat weiterhin hinter der Komplementärmedizin steht, macht uns Mut.
Mit dem Dakomed und der parlamentarischen Gruppe Komplementärmedizin halten wir den Vorstössen der Gegner entgegen und leisten viel Aufklärungsarbeit. Wir arbeiten zudem weiter darauf hin, dass die Komplementärmedizin angemessen in der Ausbildung gelehrt wird, wozu sich Bund und Kantone verpflichtet haben. Viel Arbeit also, für die wir weiterhin auf Unterstützung angewiesen sind – wir freuen uns über jeden noch so kleinen Beitrag!
Franziska Roth, Co-Präsidentin Dakomed und Ständerätin (SP, Solothurn)
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Bilder: zVg Parlamentsdienste, 3003 Bern – Fotograf: Rob Lewis / Pixabay.com – Michal Jarmoluk / Freepik.com / Eva Bronzini – Pexels.com / Susanne Keller, Bern
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1 Kommentar
Wieder eine grossartige Nr. des Millefolia mit überzeugender kompetenter Argumentation– herzliche Gratulation an Lukas Fuhrer und Redaktionsteam und vielen Dank! Wir drücken Franziska Roth und allen Mitstreitern im SR jetzt die Daumen!
Beste Grüsse (aus Norwegen) — Hansueli